Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Thiemeyer
Издательство: Bookwire
Серия: Die Chroniken der Weltensucher
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783948093297
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National Geographic?«

      Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Schlimmer. Wie wir aus Lima erfahren haben, hat es ursprünglich fünf Platten gegeben. Durch einen dummen Zufall scheint eine davon auf dem Schwarzmarkt an jemand anderen verkauft worden zu sein. Jemand, der uns allen bekannt sein dürfte und der uns große Schwierigkeiten machen kann. Sein Name …«, er legte eine Kunstpause ein, »… ist Carl Friedrich von Humboldt.«

      Wieder waren Ausrufe des Erstaunens zu hören, diesmal jedoch durchsetzt mit Flüchen. Jeder in diesem Raum kannte den Namen. Der Forscher – der Legende zufolge ein illegitimer Spross des großen Alexander von Humboldt – hatte sich in den vorangegangenen Jahren als zäher Widersacher erwiesen. Immer, wenn irgendwo eine neue Insel, ein unbekannter Stamm oder gar eine verschollen geglaubte Kultur entdeckt wurde, war Humboldt schon vor ihnen da gewesen. Sei es in Madagaskar, in Tasmanien oder auf den Osterinseln. Er hatte Grönland genauso bereist wie Indien, Afghanistan und den Hindukusch. Der Mann schien ein untrügliches Gespür für interessante Standorte und einen schier unersättlichen Hunger auf Abenteuer zu haben.

      An sich war daran nichts Verwerfliches, Abenteurer gab es genug. Dieser Humboldt neigte jedoch dazu, seine Funde zu publizieren und das National Geographic hatte bereits großes Interesse an seinen Berichten bekundet.

      »Sie sehen also, mein lieber Pepper, wie wichtig der Faktor Zeit in diesem Fall ist. Wenn Humboldt Wind von der Sache bekommen hat, zählt jeder Tag.«

      »Wenn der Mann wirklich an der Sache dran ist, dann sehe ich noch weniger Grund, jemanden wie mich auf diese Reise zu schicken. Humboldt ist ein Abenteurer, wie er im Buche steht. Ein Forscher von echtem Schrot und Korn. Zäh, skrupellos und absolut unberechenbar. Gegen einen solchen Konkurrenten hätte ich keine Chance.«

      »Sie werden nicht allein sein«, sagte Vanderbilt und ein schwer zu deutendes Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich werde Ihnen jemand zur Seite stellen, der es in Sachen Intelligenz und Durchtriebenheit durchaus mit Humboldt aufnehmen kann. Jemand, der sich an jedem Ort der Erde zurechtfindet und sich hervorragend zu verteidigen weiß. Ich wende mich nur an sie, wenn es um Aufträge von besonders heiklem Charakter geht. Sie arbeitet gerne im Verborgenen. Ihr Name ist Valkrys Stone.«

      »Eine Frau?« Max glaubte, sich verhört zu haben.

      »Ganz recht.« Vanderbilt verschränkte die Arme hinter dem Rücken und richtete seinen Blick hinüber zum Central Park. »Miss Stone arbeitet schon seit vielen Jahren für mich. Sie haben von ihr bislang noch nichts gehört, weil hierfür keine Notwendigkeit bestand. Sie schätzt es, unerkannt zu bleiben. Aber sie ist eine der Besten ihres Faches, das können Sie mir glauben.«

      Max schwieg. Während er nach außen hin so tat, als würde er sich Vanderbilts Vorschlag durch den Kopf gehen lassen, überlegte er fieberhaft, wie er aus dieser unangenehmen Situation herauskam. Er war ein Stadtmensch, ein Stubenhocker, wenn man so wollte. Er liebte es, über fremde Länder zu berichten, aber selbst dorthin zu reisen war ihm ein Gräuel. Schon als Kind war ihm jede Ortsveränderung zuwider gewesen. Er zermarterte sich das Hirn, was sein Chef wohl als Entschuldigung durchgehen lassen würde. Das Dumme war: Ihm fiel nichts ein. Die Sekunden verrannen. Mit jedem Ticken der Wanduhr wurden die Blicke der Anwesenden bohrender. Endlich hielt Max es nicht mehr länger aus. Kleinlaut und mit einem ganz miesen Gefühl im Bauch sagte er: »Wenn es denn unbedingt sein muss …«

      Der Zeitungsmogul lachte und schlug ihm seine Pranke zwischen die Schulterblätter. »Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Pepper. Das ist der Geist, der in diesen heiligen Hallen weht. Lassen Sie uns doch mal über eine Gehaltserhöhung sprechen, wenn Sie wieder zurück sind.«

      6

      Einige Tage später, irgendwo in den peruanischen Anden …

      Harry Boswell erwachte aus einem tiefen, unruhigen Schlaf. Er benötigte ein paar Sekunden, bis er seine Gedanken sortiert und sich vergewissert hatte, dass er immer noch eingesperrt war. Er stellte fest, dass er am Boden lag, vermutlich, weil er mal wieder aus seinem Bett gefallen war. Kein Wunder. Seit seiner Entführung konnte er nicht mehr richtig schlafen. Er wurde von Albträumen geplagt, die ihn selbst in den frühen Morgenstunden nicht zur Ruhe kommen ließen. Seine Liegestatt bestand nur aus einer schmalen, unbequemen Pritsche und einer groben Decke. Nichts, was man auch nur annähernd als Bett bezeichnen konnte. Das dünne Laken reichte bei weitem nicht aus, ihn vor der feuchten Kälte zu schützen, die Nacht für Nacht aus der Schlucht emporkroch. Matratze und Tuch waren aus irgendwelchen Gräsern geflochten, die zwar zäh und widerstandsfähig, aber keineswegs wärmend waren.

      Er rappelte sich auf. Von seinen Verletzungen war kaum noch etwas zu sehen. Die Wunden auf seinem Rücken und seiner Schulter waren verheilt. Auch das Gift war restlos aus seinem Körper verschwunden. Geblieben war die Gewissheit, ein Gefangener zu sein. Eingesperrt in einer vier Quadratmeter großen, kokonartigen Zelle mit rundem Boden und gewölbter Decke. Fenster gab es keine und die einzige Tür war immer verschlossen.

      Wie viele Wochen oder Monate waren vergangen, seit er in das geheime Reich eingedrungen war und seine Fotos geschossen hatte? Drei? Vier? Er wusste es nicht mehr. Nach seiner Flucht hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht als Folge des Giftes. Gut, man hatte ihn gerettet. Man hatte ihn geheilt und wieder zu Kräften kommen lassen, aber wofür? Seit seiner Gefangennahme hatte er mit niemandem gesprochen. Essen und Trinken brachte man ihm, wenn er schlief. Seine Notdurft verrichtete er über einer Öffnung, die ins Bodenlose führte. Ein Loch, das zu klein war, um dadurch entfliehen zu können, aber wiederum groß genug, um fortwährend Angst vor dem bodenlosen Abgrund zu haben. Allerdings hatte das Loch auch einen Vorteil. Boswell war in der Lage, ein wenig von der Welt zu erkennen, die ihn umgab. Wenn er mit dem Gesicht ganz nah heranging, konnte er sehen, dass seine Zelle wie ein Wespenkokon in eine senkrechte Felswand gebaut war. Viele weitere Kokons befanden sich dort. Manche klein, manche von beträchtlichen Ausmaßen. Sie waren durch Leitern, Zug- und Hängebrücken miteinander verbunden, auf denen sich irgendwelche Gestalten bewegten. Doch sie waren zu weit entfernt, als dass er sie genauer hätte sehen können. Ab und zu sah er eines der seltsamen Luftschiffe unter sich hinweg kreuzen. Manche schlank und schmal, andere dick und bauchig. Das waren Momente, in denen er jedes Mal vor Ehrfurcht die Luft anhielt. Dieses seltsame Volk bewegte sich mit derselben Sicherheit und Grazie durch die Lüfte, wie es die wohlhabenden New Yorker mit ihren Segelbooten daheim auf dem Wasser taten.

      Was ihn bedrückte – mal abgesehen davon, gefangen gehalten zu werden –, war die Tatsache, dass es ihm in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal gelungen war, seine Entführer zu Gesicht zu bekommen. Er wusste nicht, wie sie aussahen, wie sie sich kleideten, welchen Schmuck sie trugen. Gewiss, er hatte schon oft versucht, den Moment abzupassen, in dem man ihm sein Essen brachte, aber es war wie verhext. Sie schienen genau zu wissen, wann er schlief und wann er nur so tat. Blieb nur der Blick durch das Loch.

      Boswell bemerkte, dass er seine Brille nicht aufhatte. Er suchte unter dem Bett, doch da war sie nicht. Er kniff die Augen zusammen und spähte umher. Durch die Ritzen im Flechtwerk des Daches fielen Sonnenstrahlen in seine Hütte, die wie strahlende Finger durch die Dunkelheit tasteten. Plötzlich sah er die Brille an einem weiter entfernten Teil der Hütte funkeln. Er wollte sie schon aufheben, als er einen merkwürdigen Geruch bemerkte. Rauch. Es roch, als ob irgendwo in der Nähe ein Brand ausgebrochen wäre. Er kniff die Augen zusammen. Unter der Brille stieg eine schmale Rauchsäule in die Höhe. Er rutschte näher heran und untersuchte das Phänomen. Eines der Brillengläser hatte wohl das Schilf entzündet. Ein kleines Flämmchen züngelte empor. Er wollte es gerade mit einem Schöpfer Wasser löschen, als ihm eine Idee kam.

      Vorsichtig nahm er die Brille und fuhr damit langsam über das knochentrockene Binsengeflecht. Die gleißenden Strahlen ausnutzend, entzündete er an mehreren Stellen das Grasgeflecht und hielt die Glut dadurch am Leben, dass er sanft blies. Zum Glück war die Rauchentwicklung relativ gering. Wären die Gräser feuchter gewesen, hätte ihn der Qualm vermutlich sofort verraten. So aber gelang es ihm, den Boden Stück für Stück und entlang eines schmalen Streifens in Kohle zu verwandeln.

      Nach einer guten Stunde hatte er sein Werk vollendet. Schweißgebadet lehnte er sich zurück. Er hatte einen Kreis von vielleicht