Harold. Einzlkind. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Einzlkind
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862870066
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ist der Kater von Mrs. Cardigan, der ihm vor vier Jahren auf dem Weg zum Supermarkt in die Speichen lief und seither eine animalische Zuneigung an den Tag legt, die Harold immer wieder aufs Neue ratlos zurücklässt.

      Es klingelt.

      Es ist die Türklingel.

      Eigentlich unmöglich. Es kann sich nur um ein Versehen handeln. Vielleicht Kinder, deren Beschäftigung Spaß ist. Harold sitzt in seinem Sessel, Holly Golightly verstummt für einen kurzen Moment, er ist verwirrt, er lauscht und hört eine Stimme. Direkt hinter der Wohnungstür.

      Es klingelt erneut. Harold steht auf, noch unsicher, ob er sich das alles nicht nur einbildet. Warum nur steht jemand zu dieser Uhrzeit vor seiner Tür und erwartet, dass er diese aufmacht? Er blinzelt durch den Spion und schreckt zurück, weil von der anderen Seite ebenfalls jemand durch den Spion blinzelt. Dieser jemand hat jetzt gesehen, dass Harold zuhause ist, es wäre unhöflich, wenn er nicht öffnen würde. Er drückt die Klinke vorsichtig runter und öffnet die Tür zur Hälfte.

      »Hallo«, sagt eine junge Frau. Vielleicht dreißig, schwer zu sagen, sie sieht wahrscheinlich gut aus, modern gekleidet und mit langen dunklen Haaren, die in einem Pferdeschwanz gehalten werden. Neben ihr steht ein kleiner Junge, der sich die Brille auf der Nase zurechtrückt.

      »Hallo«, wiederholt die junge Frau, »ich bin Denise Bentham und das ist Melvin.«

      Harold blickt Denise Bentham und danach Melvin an. Ihm ist nicht wohl.

      »Wir sind ihre neuen Nachbarn.«

      Harold überlegt, ob er nun wieder die Tür schließen kann oder ob er noch weitere Informationen empfangen muss.

      »Es ist mir ein bisschen unangenehm ...«, sagt Denise Bentham.

      Harold ist nicht wohl.

      »Ich bin da gerade in einer sehr kniffligen Lage und Mrs. Cardigan meinte, dass Sie momentan arbeitslos sind und, nun ja, ein wenig Zeit haben. Wissen Sie, Zeit ist momentan das kleine Problem, das ich habe.«

      Harold ist nicht wohl.

      »Nun, um es kurz zu machen, Melvins Vater ist unbekannt und seine Großeltern sind tot. Lungenkrebs. Beide. Sie haben bis zum Schluss vierzig Zigaretten täglich geraucht, aber sie haben nicht mehr viel gespürt, das Morphium hat ganze Arbeit geleistet.«

      Harold ist nicht wohl.

      »Wir leben erst seit zwei Wochen in der Stadt, wir kennen noch niemanden. Sehen Sie, ich habe hier einen Job angenommen, einen sehr guten, in der Werbebranche. Und jetzt gibt es da eine klitzekleine Unstimmigkeit mit einem Kunden und ich müsste für eine Woche nach Frankreich, Toulouse, um genau zu sein.«

      Harold ist nicht wohl.

      »Wissen Sie, ich habe bei der Einstellung ein bisschen geflunkert, also ich habe nicht explizit meinen Sohn erwähnt. Voraussetzungen für die Stelle waren nämlich Eigenschaften wie ungebunden, unabhängig und zeitlich äußerst flexibel. Melvin ist wirklich ein lieber Junge.«

      Harold ist gar nicht wohl.

      »Im Grunde würde es schon reichen, wenn man sich nach der Schule zwei bis drei Stunden mit ihm beschäftigt. Das heißt, sehr viel wahrscheinlicher wird Melvin Sie beschäftigen, er redet sehr gerne und sehr viel. Lassen Sie ihm nicht alles durchgehen, seien Sie ruhig auch mal streng.«

      Harold ist mehr als gar nicht wohl.

      »Melvin hat meistens bis halb vier Unterricht und ist so gegen sechzehn Uhr zuhause. Das heißt, er würde dann bei Ihnen klingeln. Mittagessen gibt es in der Schule, abends mag er nur ein Glas Sojamilch. Das macht er seit sechs Jahren so, er will nichts anderes, ich habe schon alles versucht, keine Chance. Im Grunde ist alles da, was Melvin braucht, aber falls Sie mal mit ihm ein Eis essen oder ins Kino gehen wollen, habe ich noch 100 Pfund dagelassen, Sie sind natürlich eingeladen. Ich wäre nächsten Freitag wieder da. Den Zweitschlüssel gebe ich Ihnen hier gleich mal, für alle Fälle. Ich danke Ihnen sehr, Sie helfen mir damit aus einer großen Verlegenheit. Melvin, sag tschüss, bis morgen.«

      Melvin schaut zunächst seine Mutter an, dann Harold. Er rückt mit dem rechten Zeigefinger die Brille auf seiner Nase zurecht, dann hustet er in seine linke Faust und sagt: »Auf Wiedersehen.«

      Harold ist absolut sicher, dass in den nächsten zehn Sekunden das Dach einstürzen wird.

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