The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war.
Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war.
Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund.
Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen!
Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier.
Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ.
Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker passte der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war.
Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien.
Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unpassenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar.
Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte.
In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken.
Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte.
Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion bekam und von der Identität des heldenhaften Executioner erfuhr, aus und vorbei mit der bewährten Diskretion und der früheren Geheimniskrämerei. Von einem Tag auf den anderen war der Name Beaufort in aller Munde, und die Menschen kamen in Scharen nach Hollinwood, um ihn anzustarren, zu bewundern und zu feiern. Damit war sein Schicksal als Volksheld unwiderruflich besiegelt, und über Nacht war er zu einer Berühmtheit geworden. Zu einem tollen Hecht, der es den verhassten Deutschen endlich einmal zeigte. In Hameln. Hamelin, wie seine Landsleute sagten. Der mit Judenmördern abrechnete und der Unmenschen wie verachtenswerten Schindern den Garaus bereitete. Der die Schlächter unter den Nazis, die lange genug ungestraft ihr Unwesen treiben durften, kurzerhand ins Massengrab beförderte. Der den Sieg der freien Welt mit seinem Tun eindrucksvoll untermauerte.
Wenn es nach Rupert gegangen wäre, hätte sein Leben lang nie jemand von seinem Zweitberuf erfahren. Auch jetzt noch nicht. Nur allzu gern hätte er die Uhr wieder zurückgedreht und die deutsche Episode ungeschehen gemacht, um seine Anonymität bis zum letzten Atemzug zu bewahren und zu schützen.
Es widerstrebte ihm, seine Leidenschaft an die große Glocke zu hängen. Alles, was mit Galgen und Todesstrafe, mit Vollstrecken und Hinrichten zu tun hatte, wollte er um jeden Preis für sich behalten. Er hätte demnach auch weiterhin eine richtige Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Existenz führen können, so perfekt und undurchsichtig wie möglich.
Wenn ihm die Tötungsserien im fernen Hameln nur nicht dazwischengefunkt hätten, wo er es zum ersten Mal nicht mit Liebenden, Verzweifelten, Dieben oder Psychopathen zu tun bekommen hatte, sondern mit Funktionsträgern eines Unrechtsstaates, die mordeten, weil ein verbrecherisches System es ihnen befohlen hatte. Mit Bürokraten des Grauens, genau genommen. Deshalb hatte er sich zum ersten Mal auch die Frage stellen müssen, ob er da in Wahrheit nicht seinesgleichen unbekümmert in den Tod schickte. Menschen, die wie er Vorschriften gefolgt waren und Befehle ausgeführt hatten, die an ihren Auftrag geglaubt hatten und nun, wohl oder übel, einsehen mussten, dass eine andere, tolerantere Rechtsprechung ihr Handeln im Nachhinein als unrechtmäßig einstufte und sie verdammte.
Ja, zum ersten Mal war Rupert mit grundsätzlichen und sehr unangenehmen Fragen konfrontiert worden, die an sein Inneres rührten, die sein Selbstverständnis ins Wanken bringen konnten, die ihn massiv bedrohten. Rupert hatte nicht lange überlegt, war nur für einige Minuten in sich gegangen und hatte sich in einer Art innerem Kreuzverhör selbst befragt. Zweifel hatte er erst gar nicht an sich herangelassen, nach jedem Hamelner Wochenende