Ich stand, überglücklich, im Zentrum Frankreichs: Stand auf dem Pont des Arts inmitten von anderen Flaneuren, die wie ich mehrmals täglich über die Brücke spazierten, um auf das andere Flussufer zu gelangen, sah unter mir die Lastkähne auf der Seine vorbeiziehen, erblickte die beiden dicht besiedelten Inseln, den Strom der Passanten, historische Gebäude und Museen, gewahrte die Turmspitze der Sainte-Chapelle, die ausladenden Seitenflügel des Louvre sowie die Fassade der altehrwürdigen Kathedrale Notre-Dame – und war frei.
Mir stand die Welt offen. Und was für eine Welt! Eine milde Märzsonne wärmte mir das Herz. Ich wurde von Aufbruchstimmung erfasst. Ich vermochte es, mich selbst zu überraschen. Und es war eine wunderbare Fügung, dass mir die Freiheit genau hier, in der schönsten Stadt, die ich je gesehen hatte, zuteil wurde.
I Love Paris pfiffen 1953 die Spatzen von den Dächern, Cole Porters neuen Sehnsuchtssong, und ich summte mit. Stellte mir dieselbe Frage wie der Sänger des Liedes: „Why do I love Paris? Because my love is near.“
Die Antwort war schlicht, naheliegend, wundervoll. Die Antwort kam einem Versprechen gleich, einem Orakel. An dem vielleicht etwas dran war.
Paris half mir auf die Sprünge: Das Schicksal hatte es so gewollt.
Ich hatte schon in Sydney gastiert und in Budapest, in Chicago, Moskau und in Madrid. Ich war in Berlin aufgetreten und in Stockholm, in Marseille, in Tokio und in Warschau. In London, unserem ständigen Wohnsitz, wenn wir einmal nicht um den Planeten jetteten, besaß ich meine eigene Konzertreihe. Beim Edinburgh Festival leitete ich seit mehreren Sommern eine Masterclass für angehende Tastenlöwen. Selbst hier in Paris hatte ich in den vergangenen Jahren bereits unzählige Recitals bestritten und dabei doch nie mehr zu sehen bekommen als Theater und Festsäle, Proberäume und Schnürbörden, Garderoben und Hotelzimmer, die Büros von Veranstaltern, die Werkstätten von Klavierbauern und das Interieur teurer Restaurants. Dabei zählte ich zu den internationalen Spezialisten für französische Klaviermusik.
Vom wirklichen Leben in der Metropole hatte ich nur kurze Blicke aus dem Taxifenster erhaschen können, auf dem Weg zum Flughafen oder nach der Ankunft am Bahnhof. Flüchtige Eindrücke, nichts von Dauer. Keine Freunde, keine spontanen Bekanntschaften. Einem echten Franzosen, einer waschechten Pariserin war ich nie begegnet. Eine einheimische Geliebte hatte ich nie besessen. Jetzt endlich bekam ich meine Chance. Jetzt konnte ich, ohne kontrolliert zu werden, die großen Boulevards entlangbummeln, zum Montmartre hinaufsteigen, eine schöne Unbekannte ansprechen, den Chansonpoeten Boris Vian Jazztrompete spielen hören, ein Spielzeugschiffchen auf dem Wasserbecken des Jardin du Luxembourg auf die Reise schicken oder mich auf der Terrasse der „Rhumerie Martiniquaise“ in Saint-Germain niederlassen und mir einen raffiniert gemixten Antillen-Cocktail bestellen.
Drei Soloabende in der Salle Pleyel – wo Debussy, Fauré und Satie auf dem Programm standen, wo das Publikum mir Ovationen darbrachte – lagen hinter mir, die Kritiken waren hymnisch ausgefallen. Ich war mit meiner Leistung hochzufrieden gewesen. Nun sollte ich im Studio Suiten und geistreiche musikalische Aphorismen von Poulenc für eine französische Plattenfirma einspielen. Und danach die Solowerke von Saint-Saëns. Möglichst beseelt, möglichst fehlerfrei. Jeden Morgen von neun bis halb zwölf. Und, am Nachmittag, von drei bis fünf dafür üben, im stillen Kämmerlein. Das war mein einziges Pflichtprogramm. Für ein Arbeitstier wie mich war das Entspannung pur. Wie Urlaub.
Brendas Anrufe und Telegramme ließ ich unbeantwortet. Und ich rief sie auch nicht zurück. Kabelte ihr nicht. Ich hatte unbändige Lust, mich abzunabeln. Ihre Stimme am Telefon zu hören, ihre weinerliche und manipulierende Stimme, die sonst so energisch und schneidend, kalt und verletzend sein konnte, hätte ich jetzt nicht ertragen. Sie war fuchsteufelswild gewesen, mich in der französischen Hauptstadt zurücklassen zu müssen. Einem Wutanfall nahe, als sie ihren Koffer packte und keine Handhabe mehr hatte, mich wie gewohnt an die Leine zu nehmen. Aber was konnte sie schon groß tun? Die Plattenaufnahmen gingen vor, die Sessions waren seit Langem geplant, und gegen die Wechselfälle des Lebens war kein Kraut gewachsen.
Es war unhöflich und grausam von mir, ich wusste es nur zu genau, mich nicht regelmäßig zu erkundigen, wie es ihrem verwitweten Vater in der Zwischenzeit erging, dem von ihr angebeteten Mr Finnegan. Den vor wenigen Tagen in London ein schwerer Schlaganfall ereilt hatte. An dessen Krankenbett im noblen Belgravia Brenda jetzt stand und sich die Augen aus dem Kopf heulte. Seine Brenda, meine Brenda, die meinen Beistand bitter nötig gehabt hätte. Aber diesen Gefallen tat ich ihr nicht – ich verweigerte ihr und meinem Schwiegervater mein Mitgefühl. Sollten sie ruhig ohne mich leiden! Sollte seine Genesung ruhig den Vorrang haben! Meine Bedürfnisse hatten sie bislang auch nur einen feuchten Dreck geschert. In diesen Wochen, die einzig mir und meiner Affäre mit Paris vorbehalten waren, würde ich mich nicht gängeln lassen.
Einen Stadtplan brauchte ich nicht. Ich wollte gern vom rechten Weg abkommen, mich im städtischen Dschungel verirren. In meinem kleinen Hotelzimmer in der Rue du Faubourg Saint-Honoré verlor ich nur wenig Zeit. Früh stand ich auf, schlüpfte in meine Kleider, machte nur kurze Toilette und sagte dem jungen Tag Bonjour.
Schnell noch ein schwarzer Kaffee, ein Croissant, ein flüchtiger Blick in die International Herald Tribune, und dann hielt mich nichts mehr in Innenräumen: Ich vertraute mich der Lichterstadt an, der Ville Lumière. Ich fuhr Métro und aß einen Croque Monsieur in einem Bistro nahe der Opéra-Comique, ich erkundete zu Fuß den Père-Lachaise und die Buttes-Chaumont, ich pilgerte zu den Gräbern von Chopin, Berlioz und Oscar Wilde, ich durchstreifte die gigantischen Flohmärkte an der Peripherie, ich begab mich auf Entdeckungsreise.
Und dann geschah, was geschehen musste: Ich verliebte mich in Paris. Ich hatte einen Tick zu lange hingeschaut, ich hatte mich einwickeln lassen, und jetzt war mir nicht mehr zu helfen: Ich betete Paris an. Jeden Tag ein wenig mehr. „Because my love is near.“
Was genau hier meine tiefen Gefühle auslöste, was genau an diesem Ort dafür verantwortlich war, dass meine Schwärmerei in Leidenschaft umschlug – ich konnte es nicht festmachen oder mit zwei, drei dürren Worten sagen. Womöglich die so besondere Luft von Paris. Die fabelhafte Architektur. Die ungeheure Vielzahl der Perspektiven. Schneisen, Säulen, Obelisken, Mahnmale, Statuen. Der Atem der Geschichte. Die Anmut der Frauen aus den feinen Arrondissements und die grobe Erotik der Mädchen aus den Arbeitervierteln und Vorstädten. Die sympathische Arroganz der frechen, smarten Sorbonne-Studenten, die überall am linken Ufer in Grüppchen zusammenstanden, rauchten und die Welt neu erfanden. Die unnahbare Aura der ganz in Schwarz gekleideten, unentwegt rauchenden Existentialisten – die Gurus hielten in Cafés Hof, die nur Intellektuellen vorbehalten zu sein schienen, und ihre Jünger trugen enge Rollkragenpullover und Hornbrillen, diskutierten nonstop und gingen keiner geregelten Tätigkeit nach. Der hiesige Mix aus fremdartigen und dennoch anheimelnden Gerüchen. Das Aroma der Austern, Hummer und Miesmuscheln, die sich, auf gestoßenen Eisstücken lagernd, zu Dutzenden vor den Auslagen der Meeresfrüchterestaurants türmten. Die Anwesenheit der Menschen aus aller Herren Länder, darunter viele Laoten und Vietnamesen, Orientalen, Schwarze und Nordafrikaner. Das ständige Gewusel. Die faszinierenden Lichtverhältnisse während der Blauen Stunde – schon nicht mehr Dämmerung, noch nicht ganz Nacht. Der raue, kehlige Gesang der Straßenmusiker. Das Quietschen der Métrozüge. Die bunten Werbetafeln aus der Vorkriegszeit. Die Streikenden mit ihren Transparenten. Die blasierten Kellner in ihren schwarz-weißen Schürzen, die immer geflissentlich an einem vorbeischauten. Der Geschmack eines Pastis, den man um vier Uhr nachmittags am Panthéon zu sich nahm. Der Qualm der filterlosen Gitanes, der einem an vielen Straßenecken in die Nase stieg. Die Heerscharen von Tauben, die bei jedem Schritt durch die Tuilerien aufflatterten und sich, wie mattes Herbstlaub, woanders wieder niederließen. Der Anblick vieler kaputter Gestalten, Krüppel und Clochards, die aussahen, als würden sie ihr jämmerliches Leben jeden Moment aushauchen: in der Gosse gelandet durch zügellosen Absinthgenuss oder durch Mangel an Mitleid. Die Armut von Paris stank zum Himmel, doch es war ein Gestank, der meine Liebe zu dieser Stadt nicht schmälern konnte. „Because my love is near.“
Daran gewöhnt, von Brenda kurzgehalten zu werden – „eine gute Managerin ist strenger als eine Gouvernante“, pflegte sie zu sagen, „und du weißt, dass ich nur dein