Recht früh schon waren in allen späteren Streitpunkten klar unterschiedene protestantische beziehungsweise katholische Positionen deutlich geworden, und schon bei Abschluss des Friedens dürfte allen Beteiligten bewusst gewesen sein, dass in wesentlichen Fragen keine wirkliche Einigung erreicht war, sondern weiterhin Unklarheit herrschte. Die verbreitete Ansicht, in den Jahren zwischen 1559 und 1618 habe im Heiligen Römischen Reich eine stetige Polarisierung der konfessionellen Standpunkte stattgefunden, hat folglich kaum eine Grundlage. Vielmehr bestanden auf beiden Seiten gemäßigte und militante Positionen nebeneinander; welches Lager zu einer gegebenen Zeit die Oberhand gewann, hing vom Zusammenspiel einzelner Persönlichkeiten und allgemeiner Rahmenbedingungen ab. Die zeitliche Abfolge dieser Umgewichtungen wird in einem späteren Kapitel aufgegriffen; auf den verbliebenen Seiten des gegenwärtigen Kapitels sollen noch die gegensätzlichen Sichtweisen der beiden konfessionellen Lager skizziert werden.
Der katholische Standpunkt Die katholische Position hinsichtlich der Dubia legte 1566 Papst Pius V. fest, der den Frieden von Augsburg als taktisches Zugeständnis interpretierte – als das kleinere Übel konfessioneller Toleranz, um dem größeren Übel eines Religions- und Bürgerkrieges zu entgehen (zumal an den östlichen Grenzen der Christenheit bereits die Osmanen aufmarschierten). Diese Sicht der Dinge begegnet in Äußerungen über den Augsburger Religionsfrieden von katholischer Seite immer wieder, bis hin zu den Worten Papst Pius’ XII. anlässlich der Vierhundertjahrfeier von 1955. Allerdings ließ sich dieselbe Position sowohl in gemäßigter als auch in militanter Absicht vertreten. Die Vertreter der gemäßigten Variante sahen in dem Frieden von Augsburg ein festgeschriebenes Zugeständnis an die Lutheraner als die Angehörigen einer widerständigen Glaubensminderheit, die gleichwohl durch einen gemeinsamen Rechtsrahmen mit ihren katholischen Nachbarn verbunden sei. Zum Wohl der Allgemeinheit müssten sie toleriert werden, seien den „Rechtgläubigen“ jedoch nicht völlig gleichgestellt und hätten daher auch keinen Anspruch auf weitergehende politische Rechte. Viele, auch gemäßigte Katholiken gingen weiter und behaupteten, 1555 habe schlicht dem Luthertum eine Schranke gesetzt; wer jedoch von den Abtrünnigen seinen Fehler einsehe, dürfe durchaus in den Schoß des wahren Glaubens zurückkehren. Eine Veränderung der Ausgangssituation sei also möglich und erlaubt – allerdings nur in eine Richtung. Die militanten Katholiken beriefen sich auf die jesuitische Lesart der Lehre vom kleineren Übel und argumentierten, dass der ursprüngliche, 1521 gegen Luther und seine Anhänger ausgesprochene Kirchenbann durch die Regelung von 1555 lediglich ausgesetzt worden sei. Eine gewisse Rechtfertigung erwuchs dieser Ansicht aus Paragraf 25 des Augsburger Vertragstextes, in dem festgehalten war, dass der Friedensschluss nur so lange Bestand haben solle, bis die Theologen ihre Differenzen beigelegt hätten. Aus katholischer Sicht waren jedoch die strittigen Fragen schon durch die tridentinischen Dekrete von 1564 abschließend geklärt worden, woraus sich die Frage ergab, ob der Frieden von Augsburg danach überhaupt noch gültig sei. Sowohl gemäßigte als auch militante Katholiken konnten sich also auf das Reichsrecht berufen, wenn sie behaupteten, sie folgten lediglich dem „klaren Buchstaben“ des Augsburger Religionsfriedens.
Protestantische Widerstandslehren Auch auf protestantischer Seite berief man sich auf den Augsburger Frieden und klammerte sich an die Hoffnung, die Einheit der Christenheit werde wiederhergestellt und das Schisma werde bald vorübergehen. Allerdings betrachteten die Protestanten den Reichstag von 1555 nicht als das Ende, sondern vielmehr als den Auftakt ihres Vorhabens, alle Christen zur Annahme von Luthers Reform zu bewegen. Die Calvinisten waren zudem der Ansicht, auch sie sollten in die Regelung aufgenommen werden; schließlich sei ihre Konfession ebenfalls aus dem Augsburgischen Bekenntnis von 1530 hervorgegangen. Sobald die katholische Seite sich jedoch weigerte, bestimmte „Verletzungen“ des Friedens von 1555 hinzunehmen, gingen die Meinungen im protestantischen Lager auseinander: Am militanten Ende des Spektrums wurden Verfassungsänderungen und sogar offener Widerstand in Erwägung gezogen, was unter gemäßigten Protestanten noch lange nicht der Fall war.
Die Idee eines grundsätzlichen Widerstandsrechts war dem katholischen Denken durchaus nicht fremd, gewann für die Protestanten aber eine größere Bedeutung, weil sie im Reich als Ganzem ebenso eine politische Minderheit bildeten wie in den habsburgischen Territorien, wo lutherische Adlige und Städte sich einer herrschenden Dynastie gegenübersahen, die entschieden hinter der römischen Kirche stand. Wie schon in der Frage der konfessionellen Spannungen, so sollte man sich auch hier davor hüten, die Diskussion um das Widerstandsrecht als einen stetigen Radikalisierungsprozess zu interpretieren oder etwa davon auszugehen, dass Calvinisten von vornherein rebellischer gewesen seien als Lutheraner. Oft wird die politische Ideengeschichte teleologisch verzerrt, indem man den Urhebern späterhin revolutionärer Ideen schon von Anfang an einen größeren Einfluss zuschreibt als ihren traditionelleren Zeitgenossen.34 Französische und niederländische Widerstandslehren wurden durch die blutigen Bürgerkriege, die diese Länder im späten 16. Jahrhundert verheerten, zumindest teilweise diskreditiert. Im deutschen Raum konzentrierte man sich deshalb in der Diskussion um das Widerstandsrecht vor allem auf die eigene Erfahrung in der ersten Jahrhunderthälfte sowie auf Theorien aus Ungarn und Polen, wo der Widerstand des Adels gegen eine als Tyrannei empfundene Oberherrschaft eine lange Tradition hatte.
Jede Widerstandslehre musste sich früher oder später mit drei Fragen auseinandersetzen, die der Einsatz von Gewalt auf internationaler Ebene aufwarf. Ein Krieg oder Aufstand durfte dann als gerechtfertigt gelten, wenn diejenigen, die mit dem Blutvergießen begonnen hatten, ihr Handeln mit den christlichen Geboten in Einklang bringen und so der ewigen Verdammnis entgehen konnten. Ein gerechter Krieg konnte nur von einer anerkannten Autorität erklärt werden – mit Blick auf einen Aufstand war aber schon nicht mehr klar, wer dies sein sollte. Ebenso unklar war, was einen hinreichenden Grund zum Widerstand bildete – und durfte man nur zur Verteidigung religiöser Überzeugungen Widerstand leisten oder auch aus weltlichen Interessen? Zu guter Letzt war unklar, ob ein Widerstandsrecht nur so lange bestand, bis das Unrecht abgestellt war, oder ob man dessen Verursacher stürzen durfte oder sogar sollte.
Die Theologen aller Richtungen sprachen sich prinzipiell für den Gehorsam aus. Die weltliche Obrigkeit sei von Gott eingesetzt; selbst die Herrschaft eines Tyrannen müsse als Glaubensprobe erduldet werden. Calvin ermahnte sogar die Christen im Osmanischen Reich, dem Sultan unter allen Umständen zu gehorchen. Diese pauschale Bejahung obrigkeitlicher Autorität begann allerdings zu bröckeln, sobald das Schicksal der eigenen Konfession auf dem Spiel zu stehen schien. Schon 1524 verwiesen manche Protestanten auf das antike Modell von Kontrollinstanzen, speziell auf das Beispiel der spartanischen Ephoren oder der römischen Tribunen, welche