»Ich geh hoch«, gab sie das Zeichen zum Aufbruch.
»Ist recht.«
Maria zog wie jeden Abend die Zapfengewichte der Kuckucksuhr hoch, bevor sie über den schmalen Stiegenkasten die Treppe in die Schlafkammer, die über der Stube lag, nahm. Die Türe blieb geöffnet, sodass die Kachelofenwärme von unten nach oben zog. Maria zog ihr Nachtgewand und die Haube an, hockte sich über den Nachttopf, sprach schließlich ihr Nachtgebet und legte sich ins Bett. Wenig später folgte ihr Ehemann. Wie jeden Abend hatte er abgewartet, bis sie zugedeckt im Bett lag. Maria löschte die Kerze in der Laterne und zog die Vorhänge zu. Jetzt war es stockdunkel.
Wie gewohnt schlief Philipp schnell ein, während seine Frau wach auf ihren vielen Kissen lag. Sie hörte sein Schnarchen und ging im Geiste durch, woran sie morgen zu denken hatte. Den Söhnen ein Vesper richten, damit sie in Urach zu essen hatten und nicht Geld im Gasthaus ausgeben mussten. Hoffentlich würde der Sturm bis dahin aufgehört haben. Den großen Kessel mit Salz ausreiben, denn er hatte unten eine Schicht angesetzt. Die alten Leinentücher ausbessern. Brotteig ansetzen.
Normalerweise half ihr die Gewohnheit, den nächsten Tag zu planen, um in den Schlaf zu finden. Heute Abend jedoch wollte sich keine Bettschwere einstellen. Maria spürte eine innere Unruhe. Es musste am Sturm liegen.
Der Wind rüttelte zornig an den Fenstern, und der Regen prasselte ohne Unterlass. Fast glaubte Maria, dass der Holzschieber aus der Halterung fiele. Da gab es plötzlich ein gewaltiges Donnern und Dröhnen. Das ganze Haus zitterte. Maria richtete sich erschreckt auf und sprach schnell in die Dunkelheit ein Vaterunser. Es dröhnte und zitterte noch immer. Sie sprach ein zweites.
»Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
Schlagartig war Ruhe. Wind und Regen wirkten auf einmal ganz leise. Der Kuckuck unten in der Stube rief unbeeindruckt elfmal. Philipp schnarchte. Maria rüttelte an der Schulter ihres schlafenden Mannes.
»Philipp, hast du das Schausen gehört?«
»Welches Schausen?«, fragte er verschlafen, ohne sich zu rühren.
»Ein Dröhnen und Donnern. Ein … gewaltiges Schausen. Alles hat gewackelt. Seltsam. Wie kannst du es nicht gemerkt haben?«
»Das ist doch nur der Sturm«, Philipp tastete im Dunkeln nach der Hand seiner Frau und streichelte sie kurz, »ein Windstoß. Sorg dich nicht. Morgen ist es vorüber. Und jetzt schlaf.«
Er nahm seine Hand weg und drehte sich schwerfällig um. Bald ertönte erneut sein Schnarchen. Maria jedoch sollte die ganze Nacht keinen ruhigen Schlaf finden.
1833 – 1834
340 Juchert Feld und Wald. Ein über hundert Jahre altes, großes Schwarzwälder Bauernhaus mitsamt allen Fahrnissen. Daneben Speicher und Kapelle unter einem Dach. Mühle und Backhaus unter einem Dach. So stand es im Kaufvertrag. Der Königenhof war der neue Besitz von Martin Tritschler, bis jetzt Gregorihofbauer in Urach. Mit diesem Hof, so war er sich sicher, hatte er einen guten Fang gemacht. 8.200 Gulden hatte er dafür bezahlt.
Der neue Hof lag knappe drei Stunden zu Fuß von Urach entfernt. Die Familie Tritschler, ihr Knecht und die Magd hatten sich schon früh auf den Weg gemacht, um noch vor Mittag an ihrem neuen Domizil anzukommen. Das letzte Stück ging es steil hinab ins Wagnerstal. Nach dem Kajetanshof ging es wieder leicht nach oben, und an der letzten Kehre sah man bereits das riesige Bauernhaus am Ende des engen Tales stehen. Links davon schmiegte sich das kleine Nachbarhaus, das Königenhäusle, an den Hang. Mitten durch das Tal murmelte ein Bach, an dessen Ufer die dem Hof zugehörige Mühle und die Kapelle lagen. An allen Seiten ragten steile Hänge auf, sodass der Königenhof, zumal auf der Winterseite erbaut, auch jetzt, da die Sonne ihren höchsten Punkt bald erreichte, im Schatten lag.
»Schau, unser Land … und unser Hof.«
Martin Tritschler hielt den vollbeladenen Pferdewagen an und blickte stolz seine Frau Walburga an, die neben ihm auf dem Kutschbock saß. In ihren Armen hielt sie Mathäus, ihren jüngsten, einjährigen Sohn, das zehnte Kind insgesamt. Zwischen den Eheleuten saßen der dreijährige Fidel und die zweijährige Magdalena. Der Knecht lenkte ein weiteres Gefährt, das von zwei Ochsen gezogen wurde. Die größeren Kinder liefen mit der Magd sowie den Kühen und Ziegen hinter den Wagen her und passten auf, dass kein Tier sich davonstahl.
Walburga sah sich interessiert um. Erst vor ein paar Wochen war ihr Mann mitten in der Heuernte verschwunden, und als er am Abend wiederkam, hatte er verkündet, dass die Familie ins Wagnerstal umziehen würde. Walburga war von der Vorstellung nicht sehr begeistert gewesen, aber Martin hatte ihr den neuen Hof in den schönsten Farben ausgemalt.
»Er wird recht für dich sein«, sagte er. »Der Hof ist groß, viel größer als hier, die Küche ist enorm, es gibt ausreichend Kammern für unsere Kinder und die Völcher. Wir werden mehr als doppelt so viel Land haben wie zuvor.«
Viel Landwirtschaft würde sich im hochgelegenen, schattigen Wagnerstal zwar nicht treiben lassen. Ein paar Kartoffeln, etwas Hafer und Roggen, mehr war nicht möglich. Der Reichtum dieses Hofes, war sich Martin sicher, lag hinter dem Hof an den steilen Hängen: Wald. Die Holländer waren ganz verrückt nach Holz aus dem Schwarzwald, das über den Rhein, zu riesigen Flößen aneinandergebunden, den Weg in den Norden nahm. Und dieses Geschäft würde sich der neue Königenbauer nicht entgehen lassen.
Beim Anblick des Königenhofs sah Walburga nun, dass ihr Mann recht gehabt hatte. Der Hof wirkte stattlich, viel größer als der alte in Urach, sein riesiges Dach spannte sich weit hinunter bis fast auf den Boden und wirkte beschützend. Alles Land drum herum sollte ihres sein. Es war beeindruckend.
Sie passierten erst die Mühle mit dem angegliederten Backhaus, dann die Kapelle mit dem Speicher und schließlich das Königenhäusle. Vor dessen Tür stand eine Frau mit ihren zwei barfüßigen Söhnen und hob freundlich die Hand zum Gruß. Martin und Walburga nickten ihr zu, die Kinder winkten.
Vor dem Königenhof brachte Martin seine beiden Pferde zum Stehen und sprang vom Wagen. Walburga reichte der Magd Gertrudis und ihren ältesten Töchtern Elisabeth und Bibiane die kleinen Kinder und stieg selbst hinab. Alle schauten sich um. Bibiane, der Wildfang unter den Geschwistern, rannte schon davon, die kleine Magdalena huckepack, die vor Freude laut juchzte.
Der Stall lag im vorderen Teil des Hauses mit Blick ins Tal und würde schlechtes Wetter abhalten, während sich der Wohnteil hinten an den steilen Berg schmiegte. Eine Fensterreihe links des Hauseingangs, knapp unterhalb der Dachkante, deutete an, wo sich die Stube befand. Im Winter, dachte Walburga, würde es sehr dunkel sein. Rechterhand, neben dem Stalleingang, stand geschützt der Brunnenstock mit dem aufgesetzten Milchhäusle, das zum Kühlen von Milch und Butter diente.
Martin wartete vor der Eingangstür zum Wohnteil, bis Walburga, wieder mit Mathäus auf dem Arm, zu ihm kam. Der neue Königenbauer steckte den mächtigen Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und stieß die Haustür auf. Quietschend gab sie den Weg ins Innere frei, und Martin ließ seine Frau eintreten.
»Willkommen im Königenhof.«
Die geöffnete Tür ließ ein wenig Licht in den schummrigen Hausgang. Sein Boden war mit Stein ausgelegt. Rechterhand ging es durch eine Verbindungstür in den Stall, während sich linkerhand die Stube befand, die vollständig möbliert war. Über die gesamte Fensterseite sowie an der Querseite und entlang der Wand links neben der Tür verlief eine Sitzbank, davor stand ein sehr langer, massiver Tisch, der Platz für die gesamte Großfamilie Tritschler bot. Eine weitere einfache Sitzbank auf der der Stube zugewandten Seite des Tisches sowie mehrere Stühle komplettierten die Einrichtung. Ein grüner Kachelofen rechts neben der Tür sorgte für Wärme in der kalten Jahreszeit. Walburga fiel außerdem der reich geschmückte Herrgottswinkel ins Auge.
Gleich hinter der Stube folgte die Küche. Es war eine über zwei Geschosse gehende Rauchküche ohne Kamin, wie