»Was geschafft?«
»Ihnen zu sagen, was so wichtig für sie war.«
»Sie hat nichts gesagt.«
»Oh.«
Die Schwester ging zurück zum Zimmer seiner Großmutter. Martin sah ihr nach, dann wieder zur Ausgangstür. Er griff den Knauf. Bevor er ihn drehte, schaute er ein letztes Mal zurück. Dann entschied er, zu gehen. Schließlich musste er unterrichten.
Wieder hallte Schwester Tamaras Stimme durch den Flur: »Rudi! Kennen Sie Rudi?«
Die Frage traf auf seinen nassgeschwitzten Rücken, drang ins Mark, raste die Nervenbahnen empor und explodierte in seinem Kopf wie ein Winterblitz. Magisch angezogen lief er zurück ins Zimmer. Dort angekommen, wurde ihm schwarz vor Augen. Schnell setzte er sich wieder, um nicht zu stürzen. Umzufallen war ohnehin eine Möglichkeit, die er bisher aus seinem Leben ausgeklammert hatte; er fand, dass dies einem fünfundfünfzigjährigen Mann schon gar nicht zustand. Und außerdem – niemand würde ihn auffangen. Heute nicht und damals auch nicht. Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, ruhig ein- und auszuatmen. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können. Und während sein Atemrhythmus beschleunigt war, war der ihre verlangsamt und unregelmäßig, laut und röchelnd und widerlich kämpfend. Martin hielt sich an beschreibenden Worten fest, wie er es als Kind gelernt hatte. Mama liegt im Sarg auf einem weichen Kissen, das weiß ist wie eine Sommerwolke. Der Angst vor der Wirklichkeit zog er mit Worten einen Schutzmantel an. Da drangen Worte aus Großmutters Mund an sein Ohr: »Rudi ist auf dem Speicher.«
Martin stürzte ins Freie. Draußen empfing ihn ein eisiger Wind. Bevor er sein Auto erreichte, hörte er schon wieder Schwester Tamara rufen: »Herr Wachs, ich habe noch etwas für Sie!« Außer Atem erreichte sie ihn und übergab ihm einen Umschlag. Er bedankte sich, klemmte ihn zwischen die Zähne, schloss den Reißverschluss seiner Steppjacke und marschierte zu seinem Auto. Der rote Volvo stand mutterseelenallein auf dem großen Besucherparkplatz. Das Ende hielt immer Plätze frei. Er schloss die Fahrertür auf, stieg ein und legte den Umschlag auf den Beifahrersitz. Wieder drückte das Smartphone in seiner Gesäßtasche. Er nahm es heraus und steckte es unter den Umschlag. Dann führte er den Schlüssel ins Zündschloss, schaffte es aber nicht, ihn umzudrehen und loszufahren. Wie gelähmt saß er da, das Bild seiner sterbenden Großmutter vor Augen. Er war froh, aus dem überheizten Sterbezimmer entlassen worden zu sein. Aber jetzt, allein hier draußen, befiel ihn auf einmal eine unglaubliche Kälte. Tränen stiegen auf, er wischte sie weg. Er mochte nicht in den Tag starten, aber hier stehen bleiben, konnte er auch nicht. Die Zeiger der Armbanduhr bedeuteten ihm, dass er noch Zeit hatte. Ratlos, was er mit dieser Zeit anfangen sollte, betrachtete er die Uhr. Ein Erbstück seines Vaters, ohne das er nicht aus dem Haus ging – weitere Tränen stiegen auf. Er ließ sie fließen. Sein Vater hatte nie viel Zeit für die Familie gehabt, trotzdem war es allemal besser gewesen, einen Vater zu haben, als niemanden mehr. Schlagartig ging ihm auf, dass er jetzt keine Familie mehr hatte. Betrübt sah er aus dem Fenster. Wenngleich sich das Nachtschwarz allmählich davonschlich, war der Sonnenaufgang noch fern. Wie oft würde die Sonne für ihn noch aufgehen? Es war so verdammt kalt. Er zog die Nase hoch. Weil er kein Taschentuch fand, drehte er den Schlüssel im Zündschloss, damit die Heizung anspringen konnte. Dann griff er nach dem Umschlag. Schon von außen konnte er einen Schlüssel fühlen. Wahrscheinlich sollte er sich jetzt um alles kümmern, das Auflösen von Großmutters Haushalt und den Verkauf ihres Hauses. Wollte er das? Doch wer sollte das sonst tun? Die Frage war aber, ob er es konnte. Er öffnete den Umschlag und förderte außer dem Schlüssel die Visitenkarte eines Notars zu Tage. Eigentlich wunderte ihn das nicht, Großmutter war ein organisierter Mensch gewesen. Ich habe alles geregelt – einer ihrer Lieblingssätze. Gemeint hatte sie nicht nur das, was jetzt eingetreten war. Sie hatte schon immer für alles Regeln gehabt. Auch nach dem Unfalltod seiner Eltern hatte sie ihn nach ihren Regeln aufgezogen. Maximen, die ihm oft an der Grenze zur Lieblosigkeit erschienen waren. Wahrscheinlich hatte sie es nach diesem schrecklichen Ereignis einfach nicht anders hinbekommen. Sie hatte es so gut gemacht, wie sie eben konnte. Aber er war ein Kind gewesen, das mehr gebraucht hätte, als Vorschriften und ein Dach über dem Kopf.
Er schaltete das Radio an. Gerade begannen die Sechs-Uhr-Nachrichten. Martin dachte an den Radiowecker in seinem Schlafzimmer, der nun vor sich hin dudelte. Dann musste er wieder an Großmutters letzte Worte denken: »Rudi ist auf dem Speicher.«
Wenig später ging er auf das Haus zu, in dem er aufgewachsen war. Wie oft hatte Mutter früher vor der Tür gestanden und ihm zugerufen, dass das Essen fertig sei. Und dann war er seiner lachenden Mutter in die Arme gerannt. Nach dem Unfall hatte er das Herumtrödeln angefangen.
Es wäre ein Geschenk des Himmels, dachte er, wenn er Rudi tatsächlich auf dem Speicher finden würde. Vor der Haustür angekommen, kramte er in der Jackentasche nach dem Schlüssel und schloss die Tür auf. Er trat ein, tastete die raue Wand nach dem Schalter ab und machte Licht. Harte Strahlen fielen in den geräumigen Korridor. Er wandte seinen Blick nach links auf die Wendeltreppe, die nach oben führte in den nächsten Flur, in dem eine ausziehbare Leiter in die Decke eingelassen war.
Martin, komm bitte hoch, dein Bett ruft nach dir.
Ich komme ja, bin schon auf der dritten Stufe.
Martin hörte seine Mutter lachen. Er nahm die Stufen entschlossen und zählte sie. Vierzehn.
Das starke Flurlicht von unten reichte aus, um die Luke an der Decke zu erkennen. Die Stange, die man benötigte, um die eingearbeitete Leiter herunterzulassen, lehnte an der Wand wie ein Spazierstock, der darauf wartete, ausgeführt zu werden. Martin nahm sie. Die Leiter entfaltete sich wie eine Ziehharmonika, es regnete Staubflocken. Er rieb sich die Augen, drehte sich weg und hustete. Zögerte. Dann stieg er nach oben.
Kalte Luft empfing ihn. Schüchtern fiel der Morgen durch das Dachfenster herein. Martin brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Wo sollte er suchen? Seine Armbanduhr sagte ihm, dass er eigentlich losfahren müsste, wenn er wie immer um kurz vor sieben das Schulgebäude betreten wollte. Dennoch sah er sich weiter um. Rudi, wo finde ich dich? Obwohl die Sonne inzwischen aufgegangen war, reichte die Helligkeit nicht. Martin stand da und fragte sich, wo, verdammt noch mal, der Schalter für das Speicherlicht war. Als er es gefunden hatte, knallte die Birne durch, und er musste sich weiterhin mit dem spärlichen Tageslicht begnügen.
In der rechten Ecke stapelten sich Dachziegel und Ersatzfliesen, geradeaus lehnten Skier an der Wand. Davor verbarg sich, was auch immer, unter Bettlaken. In der linken Ecke stand ein Regal unter dem Dachfenster.
Irgendwo musste er anfangen, also riss er zunächst die Laken herunter. Staub wirbelte auf, er hustete abermals und rieb seine Augen. Zum Vorschein kamen drei Koffer, ein Puppenwagen – hatte der nicht seiner Mutter gehört –, Kartons und die Nähmaschine. Letztere versetzte ihm einen Stich, er konnte sie nicht anschauen, ohne nicht auch seine Mutter zu sehen. Dieser Staub! Er rieb erneut seine Augen. Dann suchte er Rudi. Wo verdammt war Rudi? Er öffnete die Koffer, sie waren leer. In den Kartons fand er Bücher. Vielleicht im Puppenwagen? Bestimmt. Nein da lag nur eine Puppe. Martin richtete seine Aufmerksamkeit auf das Regal, das neben dem kleinen Dachfenster stand. Auf den ersten Blick in die Fächer sah er Unbrauchbares wie vertrocknete Pinsel, Farbeimer und Schwämme, die sicher zerfielen, wenn man sie berührte. Als er genauer hinschaute, entdeckte er einen Karton, der unter dem letzten Regalfach hervorragte. MARTIN stand in dicken fetten Schwarzlettern darauf. Er zog ihn heraus. Das musste Großmutter gemeint haben.
Er kniete sich nieder und öffnete den Karton. Da lag er. Sein Stoffaffe mit hellem Fell und roter Latzhose: Rudi. Ein Geruch nach Kindheit stieg auf, sommerschwer. In seiner Brust wurde es eng. Früher hatte er Rudi an sich gedrückt, wenn er seine Mutter zu sehr vermisste. Bis Großmutter ihn fortgenommen hatte. Jetzt war er wieder da. Endlich. Er nahm ihn an sich und drückte ihn an sein Herz. »Wie ich dich vermisst habe«, sagte er und fand es gar nicht albern, mit einem Stofftier zu reden. Er hielt ihn ganz fest, und da fiel es ihm auf: Das Büchlein, das er in seinen Rücken eingenäht hatte, war weg. Er war enttäuscht. Als hätte er sechs Richtige im Lotto und nun erfahren, dass es dieses