Durch das Fehlen der Sprache hatte ich in den ersten 37 Jahren auch keine wirklichen Begriffe. Mein Denken war eher wie ein Nebel, ein vorbeiziehender Duft oder wie eine feine, von fernher klingende Musik. Es gibt östliche Mönche, die gehen, um ihre innere Entwicklung zu fördern, in die Jahre der Stille. Sie gebrauchen die Sprache bewusst nicht mehr. Bei mir war das umgekehrt. Ohne die Sprache, die sich ja nach außen wendet, verband ich mich mit dem Innern. Ich entdeckte, dass ich Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrnehmen konnte. Die geistige Welt war mir näher als die physisch irdische. Das war mein Glück, denn das ermöglichte mir die Bildung, trotz des Umstands, dass ich in der Schule nicht zu gebrauchen war. Ich störte den Unterricht, vor allem die Lehrperson. Aber an Vorträgen, beim Lesen von Büchern und bei Gesprächen war ich innerlich dabei. Physisch nicht im selben Raum zu sein war nie ein Problem. Leider hat diese Fähigkeit, die sich mit dem schriftlichen Spracherwerb etwas zurückgezogen hat, auch problematische Seiten: Ich erlebe meine Mitmenschen in oft sehr verstörender Art. Ich höre, was sie sagen, sehe, wie sie sich geben, und ich erlebe gleichzeitig, wie sie innerlich sind. Ein zuweilen völlig inkongruentes Bild, das mich zu sogenannten Ausrastern bringt: Schlagen, Zerstören und Schreien.
Es ist normal, dass wir nicht immer gleich drauf sind. Wer kennt nicht Tage, an denen wir nicht alles so zustande bringen, wie wir das möchten. Das ist kein Problem. Für mich aber ist es ein schwerwiegendes Problem, mir etwas vormachen zu wollen. Nicht zu sich und der eigenen Eingeschränktheit zu stehen, bringt mich völlig aus dem fragilen Gleichgewicht. Das kommt zuweilen mit dem unsorgfältigen Gebrauch unserer Sprache zustande:
Wir wollen Mittagessen kochen. Die Mitarbeiterin sagt: „Magst du im Keller Kartoffeln holen?“ Das mag höflich und nett gemeint sein, ist aber eine furchtbare Verzerrung der Wirklichkeit. Ohne die Kartoffeln gibt es kein Mittagessen, nicht das geplante Menu. Auf eine solche Frage gibt es nur eins: Sag Nein! (Borchert). Verwirrende Aussagen und sinnloses Gerede wären zu vermeiden, wenn eine klare, auffordernde Bitte ausgesprochen würde: „Hol bitte die Kartoffeln aus dem Keller!“
Mitarbeiter sollen fachlich gut ausgebildet sein. Sie sollen wissen, was die Hintergründe von einzelnen Beeinträchtigungen sind. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Dazu leisten die Ausbildungsstätten einen großen Beitrag.
Das Wissen reicht aber nicht, so wenig mein Wissen genügt, dass ich für eine vernünftige Zahnbehandlung den Mund aufmachen sollte. Die innere, menschliche Entwicklung ist für Menschen wie mich wesentlich. Wenn ich etwas nicht weiß, dann kann ich mir das notwendige Wissen erwerben. Aber meine innere Entwicklung, mein Streben, den anderen Menschen adäquat und auf Augenhöhe auf seinem Weg zu begleiten, das kann ich nicht googlen. Ich muss mir selbst gegenüber, wenn ich eine Begleitperson sein will, streng und freudig auf das noch in mir zu Entwickelnde schauen. Ich muss mich um meine innere Entwicklung selbst bemühen. Da hilft jede Ausbildung nur bedingt.
Denn was brauche ich? Auf jeden Fall keine Besserwisser, keine noch so wissenschaftlich tausendfach Gescheiten, die bringen nur den Untergang. Das, was ich brauche, ist Sicherheit, trotz aller Unsicherheiten auf dieser Welt. Er oder sie müssen nicht alles können, aber ehrlich zu sich und zu mir müssen sie sein. Sie müssen Interesse haben an mir, so, wie ich bin. Verlässlichkeit, was auch als Nächstes geschehen mag, ist unerlässlich. Ich muss sie kennen dürfen, denn ich kann meiner Wahrnehmung oft nicht vertrauen, da bin ich darauf angewiesen, in meiner Begleitung zu lesen, was ich vom Wahrgenommenen halten kann.
Pestalozzi prägte die Begriffskombination: Kopf-Herz-Hand. Das, vorwärts und rückwärts verinnerlicht, ist neben der fachlichen Ausbildung eine perfekte Ausgangslage, um zu einer Haltung zu kommen, die mein Leben sicher und sinnvoll macht.
Vertieft sich das Interesse, kann Liebe entstehen. Nicht die erotische und auch nicht die altruistische ist hier gemeint, sondern die Menschen verbindende Liebe. Die brauchen wir alle. Davon haben wir alle ganz viel. Autismus spielt da keine Rolle.
Ich bin glücklich über mein Schicksal, auch wenn die autistischen Störungen sehr nerven und mir das Leben oft schwer machen. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, dieses Leben zu leben. An die genauen Umstände erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich weiß, dass dies völlig stimmig ist. Dadurch habe ich eine Aufgabe auf dieser Welt. Es ist mir wichtig, meinen Beitrag zu leisten, damit sich die Menschen besser verstehen.
Pascale Karlin hat den nachfolgenden Text sehr mutig verfasst. Ohne die übliche Absicherung auf wissenschaftliche Grundlagen beschreibt sie die aus eigenen Erfahrungen möglich gewordenen Beobachtungen. Reflektiert und differenziert, wie mir das nicht möglich ist, beschreibt sie, was sich hinter dem heute Autismus Spektrum Störung (ASS) genannten Phänomen verbirgt: Immer ein Mensch, der mitempfindend mit der Welt sein Leben gestalten und sich mit ihr verbinden will.
Pascale Karlin gibt keine fertigen Antworten, sie ist keine Besserwisserin, sondern stößt aufmerksam und liebevoll Türen auf. Türen, die zu Fragen führen, die es längst zu stellen gibt. Ihre Anregungen sollten bedacht und mit dem Herzen durchdrungen werden, wenn etwas davon durch die Hände fließen wird, ist dies ein Gewinn für uns alle.
Ich danke Pascale!
Und dem Leser, der Leserin dieser Schrift wünsche ich den Mut, sich darauf einzulassen.
Es lohnt sich!
Ich kann nur „JA“ sagen.
Nelli Riesen
PS: Nur ein Augenblick – noch eine kleine Geschichte aus dem Zen
Ein Weiser wurde gefragt, wie es gelingen könne, den Augenblick auszukosten, um etwas davon festhalten zu können. Schließlich sei der Augenblick zu wertvoll und unwiederbringlich, als dass man ihn einfach so entschwinden lassen könnte.
„Was denkst du“, fragte der Weise den Fragesteller, „wenn du versuchst, den Augenblick festzuhalten?“
„Ich denke: Jetzt!‘“, antwortete dieser.
„Und dann?“, fragte der Weise.
„In dem Moment, in dem ich ,Jetzt!‘ denke, ist er auch schon vorbei und ich habe nichts mehr davon. Festhalten kann ich nichts.“
„Du hast recht“, erwiderte der Weise. „In dem Moment, in dem du ,Jetzt!‘ denkst, ist das ,Jetzt!‘ schon vorüber. ,Jetzt!‘ sagen, nützt gar nichts.“
„Aber was soll ich tun?“, fragte der andere. „Ganz gleich, was ich denke, es ist sofort verflogen.“
„Du täuschst dich“, sagte der Weise. „Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen. Versuch es einmal ganz anders: „Atme tief ein und tief aus. Höre auf den Schlag deines Herzens. Schau, was ,Jetzt!‘ gerade ist und dann sag ganz einfach und ruhig ,Ja‘. In diesem ,Ja‘ kostest du den gegenwärtigen Augenblick voll aus. Viele vergangene Augenblicke und viele Augenblicke, die noch kommen werden. Das ,Ja‘ verfliegt nicht wie das flüchtige ,Jetzt!‘. Es bleibt bei dir. Das ,Ja‘ ist stärker als die Zeit. Es hat Teil an dem, was nicht vergeht“. Der Weise lächelte: „In jedem ,Ja‘ wohnt ein Augenblick Ewigkeit. Du kannst es fühlen.“
Einleitung
Als ich mir die ersten Notizen zu dieser Betrachtung des Autismus gemacht hatte, wusste ich noch nicht, wie komplex die ganze Arbeit werden würde, sobald ich nicht einfach meine Erfahrungen berücksichtigte, sondern versuchen würde, ein möglichst breites Band an Wahrnehmungen und Lebenswelten von Menschen mit Autismus zu beachten und verständlich zu erklären. Mein Ziel ist es nicht, die Symptomatik in all ihren Details zu beschreiben, sondern den Hintergrund, warum diese Symptome auftauchen, verständlich zu machen. Bei meinen Recherchen ist mir aufgefallen, dass von Autismus betroffene Menschen sehr wohl imstande sind, ihre Wahrnehmung und Lebenswelt teilweise sehr genau zu schildern, was ihnen aber fehlt, ist die Reflexion darüber, die Frage nach dem Warum. Diese Lücke will die vorliegende Abhandlung schließen, und zwar nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erklärungen,