Sie drehte sich um und verließ das Redaktionszimmer. Tom nickte Eike entschuldigend zu und beeilte sich, Karen zu folgen, die mit vorgestrecktem Kinn energisch in das Mikro eines In-Ear-Headsets sprechend voranstürmte und dabei einen blumigen Duft hinter sich herzog.
Tom kannte den Justizpalast nur vom Vorbeifahren in der Tram am Stachus oder vom Biergarten des Parkcafés beim Alten Botanischen Garten aus, drinnen war er noch nie gewesen. Bombastisch wie ein absolutistisches Schloss stand das neobarocke Gebäude zwischen dem Münchner Hauptbahnhof und dem Karlsplatz, signalisierte die Macht der Justiz und des Staates, wobei die Staatsformen über die Jahrzehnte variierten. Da der größte Saal im Strafjustizzentrum in der Nymphenburger Straße belegt war und beim Steineberg-Prozess ein Ansturm von Presse- und TV-Journalisten erwartet wurde, hatte man diesen Prozess ausnahmsweise hierher verlegt.
Als der Tonmann, der den Ford Kombi fuhr, endlich in der Nähe des Gerichtsgebäudes eine Lücke zum Parken gefunden hatte, stand schon ein Pulk von Fotografen, Zeitungs- und Hörfunkjournalisten sowie Kamerateams anderer Fernsehsender vor dem Haupteingang. Karen sprach noch immer in ihr Headset, um irgendetwas zu organisieren. Dabei hatte sie sich auf ihrem Schoß eine beträchtliche Anzahl von Notizzetteln nebst Rouge-Döschen und Lippenstift angehäuft, was sie in ihre rostbraune Business-Ledertasche einzuräumen versuchte. Sie wies das Team an, es solle vor dem Hauptportal die Kamera aufbauen, den Aufsager im On würde sie später machen, und Tom solle den Kollegen beim Tragen helfen. Zwischendrin sprach sie wegen der Terminierung ihres Videoschnittes ins Headset, wollte aussteigen, verschätzte sich aber bei der Höhe des Türrahmens und knallte mit der Stirn geräuschvoll gegen die Kante. Ein lauter Schrei. Tom, der bereits draußen auf der Straße stand, sah, wie langsam Blut aus einer Wunde über ihrer rechten Augenbraue zwischen Nase und Wangenknochen nach unten lief und auf die weiße Designerbluse tropfte. Karen war blass geworden und hatte ihre offene Ledertasche auf den Fahrzeugboden fallen lassen. Dorthin hatte sich auch ein Teil des Tascheninhalts ergossen. Tom fischte ein sauberes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und drückte es ihr auf die Stirn.
»Ist nur ein kleiner Riss!«, versuchte er sie zu trösten.
Karen atmete heftig, saß aber völlig apathisch auf dem Beifahrersitz.
»Ich hol schnell aus dem Café da drüben etwas Eis, dann schwillt die Wunde nicht so an.«
Als Tom mit zerstoßenem Eis in einem durchsichtigen Plastikbeutel zurückkam, war Karen fast wieder die Alte.
Sie gab dem Team und auch Tom Anweisungen: »Hilf den Kollegen beim Einfangen der O-Töne!«
Dabei presste sie den Eisbeutel auf ihre Stirn.
Toms Pulsschlag wurde schneller, und sein Magen zog sich zusammen. Plötzlich war er ein richtiger Reporter.
Mit seinem Arbeitsgerät auf der Schulter lief der Kameramann Richtung Haupteingang, der übergewichtige Tonmann schnaufte hinterher. Tom versuchte, etwas Platz für sein Team unter den wartenden Journalisten zu schaffen. Bei den Fotografen kam das nicht gut an. Einmal stieß ihm jemand mit dem Ellenbogen in den Rücken.
Unruhe und Hektik entstand unter den Medienleuten, als der Staatsanwalt ganz in Grau gekleidet und mit einer dicken Aktentasche in der Hand auf den Justizpalast zusteuerte. Tom, der den Namen des Mannes nicht kannte, rief: »Herr Staatsanwalt, können Sie fürs Fernsehen ein Statement abgeben?«
Aber der zwängte sich an den Reportern vorbei zum Eingang, und gab nur kopfschüttelnd »Kein Kommentar!« von sich.
Kurz danach erschien Steineberg mit seinem Anwalt. Fotoapparate klickten, Lichter blitzten auf, Hörfunkreporter hielten ihre Mikrofone in die Höhe. Toms Kameramann hievte seine Sony auf die Schulter. Jeder der Journalisten wollte zum Fall eine Erklärung von dem Sternekoch, aber er äußerte sich nicht – wie es alle auch erwartet hatten. Dafür stellte sich sein Anwalt medienerprobt vor die steinerne Pforte: »Wir sind sicher, dass Herr Steineberg freigesprochen und das Gericht als freier Mann verlassen wird.«
Das Team konnte noch ein paar Bilder im Gerichtssaal drehen, danach ließ der Richter keine Aufnahmen mehr zu.
Der Kameramann wollte sein Equipment schon in den Kombi packen, da stutzte er und fragte Karen, ob sie nun den Aufsager noch machen möchte.
»So gehe ich doch nicht vor die Kamera!«, fauchte sie und deutete dabei auf ihre Stirn und ihre Bluse. »Außerdem brummt mir der Schädel. – Was habt ihr denn jetzt? Vielleicht reicht’s ja für den Bericht?«
»Leider nicht sehr viel, der Staatsanwalt hat nichts gesagt, und Steineberg natürlich auch nicht. Sein Anwalt hat nur beteuert, dass sein Mandant freigesprochen wird«, berichtete Tom kleinlaut.
»Das hat uns noch gefehlt, dass ihr kaum etwas habt.«
»Dann soll’s der Hospitant halt mit dem Aufsager versuchen«, schaltete sich der Kameramann ein.
Karen verzog zweifelnd den Mund und wandte sich ab.
Sollte sein Gesicht am Abend in den Millionen von Fernsehern der gesamten Republik zu sehen sein, wie er den Fall kommentierte? – Genauso wie die Reporter, die in der Tagesschau oder den heute-Sendungen die Zuschauer über die Geschehnisse des Tages informieren?, ging es Tom durch den Kopf.
»Ich probier’s!«, sagte er. »Wir haben das auf der Journalistenschule geübt, aber ich brauch etwas Zeit, um mir einen Text zu überlegen.«
Im Schneideraum sah sich Tom das gedrehte Material und seine Versuche an, ein Statement im On zustande zu bringen. Auf dem Chip der Kamera war jede Zuckung in seinem Gesicht, jedes Flackern im Blick und jedes nicht klar artikulierte Wort unveränderbar gespeichert. Tom ahnte, dass die Sache mit seinem ersten Fernsehbericht nicht wirklich gut laufen würde. Er sollte einen 30 Sekunden langen Nachrichtenfilm produzieren sowie einen Zwei-Minüter als Bericht. Für Letzteren reichte aber sein Material kaum, obwohl der Cutter manche Schnittbilder etwas langsamer laufen ließ. Mit ihm hatte er alle Aufsager-Versuche durchgesehen, aber da war nur eine Version dabei, bei der Tom sich nicht versprochen oder die er nicht abgebrochen hatte. Allerdings sah er dabei nicht direkt in die Kamera, weil er von einem Zettel ein Stück unter dem Objektiv abgelesen hatte.
Tom war auf sich allein gestellt, Karen hatten sie auf ihren Wunsch hin ins Schwabinger Krankenhaus gebracht, Eike versorgte ihn ab und an mit Meldungen der Presseagenturen zu dem Fall, aber er musste seinen Bericht alleine stemmen. Immerhin hatte er darauf bestanden, dass das Team noch am Odeon vorbeigefahren und ein paar Schnittbilder gedreht hatte. Er hätte im Text noch viel mehr erzählen können, doch dafür reichten die Aufnahmen nicht aus.
Es folgte die Abnahme durch Neuwirt, der Beitrag sollte in 45 Minuten über den Sender gehen und war noch immer nicht gesprochen.
»So läuft das nicht!«, waren Neuwirts erste Worte, nachdem er Toms Film gesehen und seinen Textvorschlag gehört hatte.
»Das kann man reißerischer erzählen. Wo sind Bilder von Steineberg aus früheren Tagen? Und dass der Richter die Verhandlung mittags noch mal vertagt hat, haben Sie auch nicht im Bericht. Da müssen Sie umschneiden und umtexten, Herr Kollege.«
3
Drei Stunden später saß Tom im Atzinger und wartete auf Lisa. Die Tische des bayerischen Traditionswirtshauses waren alle besetzt – meist mit Studenten, die den Tag nach Vorlesungen in der nahen Universität mit einem oder mehreren Bieren ausklingen ließen. Das Lokal besaß einen zünftigen Charme: Stuck an den Decken, Holzverkleidung an den Wänden, der Rauch in den Pullovern der Gäste erinnerte an den Qualm in Kneipen vor dem Rauchverbot. Der Geräuschpegel lag deutlich über einer akzeptablen Zimmerlautstärke. Tom hörte nichts davon. Er hatte eine Tageszeitung vor sich liegen, starrte auf das Papier, aber er las keine Zeile.
Es war gerade noch gut gegangen, Neuwirt hatte die beiden Filme abgenickt, nachdem Tom sie geändert hatte, und sie waren dann im Programm von TV 1 gelaufen. Kurz vor der Ausstrahlung hatte Tom seine Eltern angerufen, und sie darauf aufmerksam gemacht. Er hatte etwas geleistet, worauf sie stolz sein konnten, das machte ihn zufrieden. Die Geschichte um das Zwei-Sterne-Restaurant, um Steineberg und das Rauschgift war das Thema