Allerdings gibt es neben den Bewußtseinsträgern, die diese Dauer erleben, eine Dauer, die sich weder zusammenziehen noch ausdehnen läßt, materielle Systeme, über die die Zeit nur hinweggleitet. Von den Erscheinungen, die hier aufeinanderfolgen, kann man tatsächlich sagen, daß sie dem Entrollen eines Fächers gleichen, oder besser eines Films. Im voraus berechenbar, existierten sie unter der Form des Möglichen vor ihrer Verwirklichung. Derartig sind die Systeme, die die Astronomie, Physik und Chemie erforschen. Bildet das materielle Universum insgesamt ein System dieser Art? Wenn unsere Wissenschaft es annimmt, so versteht sie darunter einfach, daß sie im Universum alles Unberechenbare beiseite läßt. Aber der Philosoph, der nichts beiseite lassen will, muß wohl oder übel feststellen, daß die Zustände unserer materiellen Welt mit der Geschichte unseres Bewußtseins gleichzeitig sind. Da dieses dauert, müssen jene mit der wirklichen Dauer in irgend einer Weise in Verbindung stehen. In der Theorie könnte ein Film, auf dem die aufeinanderfolgenden Zustände eines gänzlich berechenbaren Systems abgebildet sind, mit beliebiger Geschwindigkeit ablaufen, ohne daß irgend etwas daran geändert würde. Tatsächlich ist diese Geschwindigkeit bestimmt, da das Abrollen des Films einer gewissen Dauer unseres inneren Lebens entspricht, — und zwar dieser und keiner anderen. Der Film, der abrollt, ist also wahrscheinlich mit einem Bewußtsein, das dauert und seine Bewegung reguliert, verbunden. Wenn man ein Glas Zuckerwasser bereiten will, muß man wohl oder übel warten, bis der Zucker schmilzt. Diese Notwendigkeit, zu warten, ist die Tatsache, die von Bedeutung ist. Sie drückt aus, daß — wenn man aus dem Universum Systeme herausschneiden kann, für die die Zeit nur eine Abstraktion, eine Beziehung, eine Zahl ist — doch das Universum selbst etwas anderes ist. Wenn wir es in seiner Gesamtheit umfassen könnten, als unorganisch, aber durchwoben von organischen Wesen, so würden wir sehen, wie es unaufhörlich ebenso neue, ebenso originelle, ebenso unvorhersehbare Formen annähme wie unsere Bewußtseinszustände.
Aber wir haben soviel Mühe, zu unterscheiden zwischen der Aufeinanderfolge in der wahren Dauer und der Nebeneinanderstellung in der räumlichen Zeit, zwischen einer Evolution und einem Abrollen, zwischen der radikalen Neuheit und einer neuen Kombination von bereits Existierendem, und endlich zwischen der Schöpfung und der einfachen Wahl, daß man diese Unterscheidung nicht von zuviel Gesichtspunkten aus gleichzeitig beleuchten kann. Sagen wir also, daß es in der Dauer, als schöpferische Evolution aufgefaßt, eine unaufhörliche Schaffung von Möglichkeiten und nicht allein von Wirklichkeiten gibt. Viele werden es nur widerstrebend zugeben, weil sie immer meinen, daß ein Ereignis sich nicht vollzogen hätte, wenn es sich nicht hätte vollziehen können: daß es folglich möglich gewesen sein müsse, bevor es wirklich werden konnte. Aber schauen sie näher hin, so werden sie erkennen, daß „Möglichkeit“ zwei ganz unterschiedliche Dinge bedeutet, und daß man meistens von dem einen zum anderen pendelt, indem man willkürlich mit dem Sinn des Wortes spielt. Wenn ein Musiker eine Symphonie komponiert, war sein Werk dann möglich, bevor es wirklich wurde? Ja, wenn man es dahin versteht, daß seiner Verwirklichung kein unübersteigbares Hindernis im Wege stand. Aber von diesem ganz negativen Sinn des Wortes geht man, ohne darauf zu achten, zu einem positiven Sinn über: man stellt sich vor, daß jede Sache, die hervorgebracht wird, durch irgend einen genügend umfassenden Geist im voraus hätte wahrgenommen werden können, und daß sie so in Gestalt einer Idee vor ihrer Verwirklichung existierte, — eine ganz absurde Vorstellung im Fall eines Kunstwerks, denn sobald der Musiker die genaue und vollständige Idee der Symphonie hätte, die er komponieren wird, wäre seine Symphonie damit geschaffen. Weder im Bewußtsein des Künstlers, noch viel weniger aber in irgendeinem anderen Bewußtsein, das dem unseren vergleichbar, selbst wenn man es als unpersönlich oder sogar nur als virtuell ansehen wollte, wäre die Symphonie in der Eigenschaft eines bloß Möglichen vorhanden, bevor sie wirklich wurde. Aber kann man nicht dasselbe sagen von irgend einem Zustand des Universums unter Einschluß aller bewußten und lebendigen Wesen? Ist er nicht reicher an Neuem, an radikaler Unvorhersehbarkeit, als die Symphonie des größten Meisters?
Dennoch erhält sich hartnäckig die Überzeugung, daß selbst, wenn ein solcher Zustand vor seiner Verwirklichung nicht konzipiert worden sei, er doch immerhin hätte konzipiert werden können, und daß er in diesem Sinne von Ewigkeit her im Zustand des Möglichen in irgend einem reellen oder virtuellen Bewußtsein als Vorstellung vorhanden ist. Wenn man dieser Illusion genau auf den Grund ginge, würde man sehen, daß sie mit dem Wesen selbst unseres Verstandes zusammenhängt. Die Dinge und die Ereignisse finden statt in bestimmten Augenblicken, das Urteil, das das Erscheinen des Dinges oder des Ereignisses feststellt, kann erst nach ihnen kommen, es hat also sein Datum. Aber dieses Datum verwischt sich sofort auf Grund des in unserem Verstand verankerten Prinzips, daß alle Wahrheit ewig ist. Wenn ein Urteil im gegenwärtigen Augenblick wahr ist, so muß es, scheint uns, auch immer so gewesen sein. Wenn es auch noch so wenig vorher ausdrücklich formuliert war, so war es doch sozusagen de jure schon da, bevor es de facto gefällt wurde. So schreiben wir jedem wahren Urteil eine Art von Rückwirkung zu, oder vielmehr wir verleihen ihm eine Art rückläufiger Bewegung. Als ob ein Urteil den Ausdrücken, die es zusammensetzen, vorhergehen könnte! Als ob die Ausdrücke nicht erst mit der Erscheinung der Gegenstände, die sie darstellen, geboren würden! Als ob das Ding und die Idee des Dings, seine Wirklichkeit und seine Möglichkeit nicht gleichzeitig geschaffen würden, wenn es sich um eine wirklich neue, von der Kunst oder der Natur erfundene Form handelt!
Die Folgen dieser Illusion sind zahllos.2) Unsere Schätzung der Menschen und Ereignisse ist vollständig durchtränkt von dem Glauben an den retrospektiven Wert des wahren Urteils und an die rückläufige Bewegung, die die einmal gesetzte Wahrheit automatisch in der Zeit ausführen würde. Allein durch ihren Vollzug projiziert die Wirklichkeit hinter sich ihren Schatten bis in die unbestimmte Weite der Vergangenheit. Sie scheint so unter der Form des bloß Möglichen vor ihrer eigentlichen Verwirklichung existiert zu haben. Daher rührt der Irrtum, der unsere Auffassung von der Vergangenheit so verdirbt, sowie unsere Anmaßung, bei jeder Gelegenheit die Zukunft vorwegnehmen zu wollen. Wir fragen uns z. B.: was wird aus der Kunst, der Zivilisation von morgen? Wir stellen uns so im Groben die Entwicklungskurve der Gesellschaft vor; ja, wir gehen so weit, daß wir die Einzelheiten der Ereignisse vorhersagen. Sicher werden wir immer die Wirklichkeit, wenn sie eingetreten ist, mit den Ereignissen, die ihr vorausgegangen sind, und den Umständen, unter denen sie hervorgetreten sind, verbinden können, aber auch eine ganz verschiedenartige Wirklichkeit, natürlich nicht irgend eine beliebige, hätte sich ebensogut mit denselben Umständen und Ereignissen, nur unter einem anderen Gesichtswinkel aufgefaßt, verbinden lassen. Wird man daraufhin sagen, daß man unter Berücksichtigung aller Seiten des gegenwärtigen Zustandes und deren Verlängerung nach allen Richtungen hin schon jetzt alle Möglichkeiten in der Hand hätte, zwischen denen die Zukunft wählen wird, vorausgesetzt, daß sie überhaupt wählt? Aber zunächst einmal können diese Verlängerungen selbst ganz neu hinzutretende Qualitäten sein, die als Ganzes absolut unvorhersehbar entstünden, und dann existiert eine „Seite“ der Sache als „Seite“ nur, insoweit unsere Aufmerksamkeit sie herausgehoben hat als Ausschnitte von einer bestimmten Form aus dem Ganzen der gegenwärtigen Umstände: wie sollten danach also „alle Seiten“ des gegenwärtigen Zustandes existieren, bevor durch die nachfolgenden Ereignisse die originellen Formen der Ausschnitte, die die Aufmerksamkeit vornimmt, geschaffen worden wären? Diese Seiten gehören also nur retrospektiv zu der ehemaligen Gegenwart, d. h. zur Vergangenheit, und sie hatten in dieser Gegenwart, als sie noch wirklich gegenwärtig war, nicht mehr Realität, als in unserer augenblicklichen Gegenwart die Symphonien der zukünftigen Musiker haben. Um ein einfaches Beispiel anzuführen: nichts hindert uns heute daran, die Romantik des 19. Jahrhunderts mit dem zu verknüpfen, was bei den Klassikern bereits romantisch war. Aber der romantische Aspekt des Klassizismus hat sich erst klar abgehoben durch die retroaktive Wirkung der Romantik, nachdem sie einmal in Erscheinung getreten war. Wenn es nicht einen Rousseau, einen Chateaubriand, einen Vigny, einen Viktor Hugo gegeben hätte, dann hätte man nicht allein niemals etwas von Romantik bei den ehemaligen Klassikern wahrgenommen, sondern es hätte auch wirklich keine Romantik bei den ehemaligen Klassikern gegeben, denn diese Romantik der Klassiker tritt erst dadurch heraus, daß man in ihrem Werk einen gewissen Aspekt heraushebt, und dieser Ausschnitt