Heute würden sie sich zum ersten Mal treffen. Dieser Gedanke hatte ihn die vergangene Nacht kaum schlafen lassen, was sich auch nicht besserte, als er aufstand, um ein wenig fernzusehen, statt sich im Bett herumzuwälzen und zu grübeln. Es sollte wohl so sein, dass sein Blick auf das Wochenhoroskop der aufgeschlagenen Fernsehzeitschrift fiel. Amor hat diese Woche seinen Pfeil auf dich angelegt.
Danach war es mit Schlafen endgültig vorbei. Sein Herz hüpfte in freudiger Erwartung. Endlich, endlich würde sich sein Traum erfüllen. Sie war die Richtige, soviel stand jetzt schon unumstößlich für ihn fest. Sie würden zusammenziehen, möglichst bald. Nicht in seine Wohnung, die war gerade mal für einen anspruchslosen Junggesellen wie ihn groß genug. Zwar hatte Linus viel Sorgfalt auf die Wahl praktischer und dennoch schöner Möbel gelegt und fühlte sich in seinen vier Wänden sehr wohl. Trotzdem, für zwei Leute war diese Wohnung nicht geeignet. Vor allem das Schlafzimmer war zu klein. Frauen hatten doch so viele Klamotten, Handtaschen, Schuhe … Nein, da machte er sich nichts vor. Aber da sie beide verdienten, dürfte es kein Problem sein, zusammen etwas Größeres zu mieten, falls ihre Wohnung auch nicht für sie beide …
Verflucht!
Linus hatte sich auf der Mittelspur eingereiht, da hier der Verkehr in gleichmäßigem Tempo vorankam, eine Anhöhe hinauf, während auf der Überholspur einige aggressive Fahrer den alltäglichen Kampf um ein paar Meter Vorteil ausfochten. Nur um wenige Minuten später zum Stillstand genötigt zu werden und die Mittelspurkolonne wieder an sich vorbeiziehen zu sehen. Dabei war Linus so in Gedanken versunken, dass er dem Vordermann beinahe auf die Stoßstange aufgefahren wäre.
Zuckelnd überwanden sie die Anhöhe und die nächste Senke öffnete sich vor seinen Augen. Verdammt, das fehlte ihm gerade noch! Nichts ging mehr! Weit vorne blinkten an mehreren Autos die Warnlichtanlagen und auf allen Spuren war der Verkehr jetzt völlig zum Erliegen gekommen.
Linus brach der Schweiß in den Handflächen aus und er umklammerte das Lenkrad, als müsse er sein Leben daran festhalten. Nein, bitte kein Unfall, keine Autobahnsperrung! Keine neue Negativstatistik! Nicht heute!
Eine Zeit lang hatte er sich intensiv mit alten und neuen Streckenführungen beschäftigt, mit der Entwicklung von Verkehrsaufkommen und Straßenbau. Es war fast zu einem kleinen Hobby geworden. Die A9 war in den vergangenen Jahrzehnten gut auf den zunehmenden Autoverkehr ausgebaut worden. Inzwischen sechsspurig verbreitert schlängelte sich der Asphaltwurm durch die Holledau, Deutschlands primäres Hopfenanbaugebiet. Und dennoch entstand an manchen Tagen der Eindruck, dass die Kapazität dieser Autobahn immer noch zu schmalbrüstig war.
Ein wirres Hin und Her von Fragen entstand in Linus’ Kopf. Unkontrollierbar, panikartig und aufwühlend sprangen seine Gedanken herum. Was wenn … nein, ich muss es schaffen … aber wenn, was soll ich nur tun … verflucht, ich Idiot hätte einfach für heute Urlaub nehmen sollen!
Nur wenige Minuten später raubte ihm der aktuelle Verkehrsfunk die letzte Illusion, das Ziel seiner Träume rechtzeitig zu erreichen. Nach einem schweren Verkehrsunfall auf der A9 Richtung München, auf Höhe … zähfließender Verkehr.
»Ihr seid nicht auf dem aktuellen Stand«, knurrte Linus. »Zähfließend ist ja wohl gelinde untertrieben.«
Nervös begannen seine Finger auf dem Lenkrad zu trommeln. Minuten vergingen, dann bemerkte er das Blaulicht im Rückspiegel. Mühsam bahnte sich der Polizeiwagen seinen Weg zwischen der zweiten und dritten Spur.
»Typisch«, fluchte Linus vor sich hin. »Nun macht endlich Platz, ihr Vollpfosten!«
Dann hörte er auch schon das vertraute Geräusch eines Hubschraubers der Kollegen von der Luftrettung, welcher der Autobahntrasse folgte und weit vorne auf einem Feld niederging.
Resigniert lehnte Linus sich zurück und fuhr mit beiden Händen durch die kurzen Haare. Hatte das Schicksal sich gegen ihn verschworen? Sein Zeitpolster schmolz rasend schnell dahin. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er die Situation retten könnte, falls er es nicht rechtzeitig schaffte.
Ihre Telefonnummer hatte Maureen ihm nicht geben wollen. Noch nicht. Versteh mich bitte nicht falsch, hatte sie geschrieben. Aber ich möchte, dass wir uns erst sehen. Er verstand auch ohne Worte, was sie meinte. Sollte weiteres Interesse nur von seiner Seite bestehen, verhinderte sie auf diese Weise, von ihm telefonisch gestalkt zu werden. Eigentlich fand er das ganz in Ordnung. Diese Frau war vorsichtig, vermied unnötiges Risiko. Das war ein positiver Charakterzug. Und wenn er sich auf seinem Laptop einloggte und ihr im Chat eine Nachricht hinterließ? Aber was sollte er ihr schreiben? Tut mir leid, bin geschäftlich verhindert? Welche Frau akzeptierte beim ersten Date versetzt werden, weil ein scheinbar wichtiger Termin die Verabredung sprengte? Keine. Wenn es schon beim allerersten Mal nicht klappte, dann würde sie sich bestimmt denken, dass er bereits mit seiner Arbeit verheiratet war und es in Zukunft ähnliche Probleme geben würde. Objektiv betrachtet würde er sich darauf auch nicht einlassen. Was also sollte er tun?
Mein Horoskop darf nicht lügen. Vielleicht schaffe ich es ja doch noch. Nein, falscher Ansatz. Ich MUSS es schaffen! Ich treffe heute meine Traumfrau, ganz bestimmt. Das hab ich im Urin, wie Opa zu sagen pflegte. Und der musste es wissen, hatte er es doch auch Stunden vorher gewusst, dass er Oma an genau diesem Tag kennenlernen würde. Das hatte der Alte wieder und wieder erzählt, wenn er ein wenig über den Durst getrunken hatte. Und Oma hatte dabei immer so einen verklärten Glanz in den Augen bekommen.
2
Summend streckte Maureen die Arme unter der Dusche empor und stützte sich an den Kacheln ab. Sie liebte es, wenn das Wasser über ihre langen Haare den Rücken hinab prasselte, über ihren Po und die Beine rann.
Der Tag war besonders anstrengend gewesen und ihre Füße schmerzten. Die Kunden hatten sich buchstäblich die Klinke in die Hand gegeben. Den ganzen Nachmittag über war der Strom an Patienten, die ihre Rezepte einlösen wollten, nicht abgerissen. Und das ausgerechnet jetzt. Eine der PTAs war in Urlaub, eine andere hatte sich krank gemeldet.
Eigentlich stand Maureen gerne hinter der Theke und ging auf Gespräche mit Stammkunden ein, von denen sie häufig die gesamte Kranken- und Lebensgeschichte kannte. Wie früher ihr Vater, von dem sie vor zwei Jahren die Apotheke übernommen hatte, ging sie mit Leib und Seele in ihrem Beruf auf. Heute jedoch hatte sie sich freundlich aber bestimmt bei jedem kurz fassen müssen, um den Ansturm zu bewältigen.
Sich in den Bademantel zu wickeln, der verlockend an einem Haken neben der Tür hing, und sich mit einer Tasse Tee gemütlich auf das Sofa im Wohnzimmer zu lümmeln, wäre jetzt toll. Allerdings sollte sie sich endlich Gedanken darüber machen, was sie anziehen wollte. Zeit wäre genügend gewesen, sich das rechtzeitig zu überlegen, aber noch weigerte sich ihr Verstand zu akzeptieren.
Zuerst hatte Maureen die Idee für einen Scherz ihrer Freundinnen Denise, Becky und Ilona gehalten, als diese verkündeten, sie hätten Maureen bei einem Partnervermittlungsbüro angemeldet. Nette Anregung, hatte sie lachend erwidert. Aber nichts für mich. Ich komme auch ohne Mann klar.
Das stimmte nicht ganz. Nach nichts sehnte Maureen sich mehr, als nach einem liebevollen und zuverlässigen Partner, mit dem sie ihre Abende und Wochenenden verbringen könnte. Leider war Peter weder das eine noch das andere gewesen. Warum Maureen fünf Jahre gebraucht hatte, diesen Irrtum zu erkennen, wusste sie bis heute nicht. Seither hatte sie Angst vor einer weiteren Enttäuschung und verstand nicht, wie locker ihre Freundinnen über Trennungen hinweg kamen und sich in einer neuen Liebe verloren.
Beim nächsten Mal muss es der Richtige sein.
Ihre Freundinnen betitelten sie als naiv und vom anderen Stern, was Männer betraf. Maureen aber hielt unerschütterlich an ihrem Vorsatz fest. Wenn er ihr gegenüber stand, würde sie ihn erkennen, ihren Traummann. Wie dieser aussehen sollte, hatte sie nicht