Nun saßen wir nebeneinander, nur durch ein paar Zentimeter voneinander getrennt. Aber irgend etwas, eine Art unsichtbarer Barriere, einer geheimen Demarkationslinie, verhinderte, daß wir mit der unbefangenen Vertrautheit von Freunden miteinander verkehrten. Ich hatte zwar anfänglich den einen oder anderen schüchternen Versuch in dieser Richtung unternommen, etwa indem ich ihn eines Tages, als wir eine Klassenarbeit in Latein zu schreiben hatten, darum bat, ausnahmsweise die beiden dicken Bände meines Wörterbuchs einmal rechts von dem Brett legen zu dürfen, das den Platz für unsere Bücher und Hefte in zwei vollkommen gleiche Fächer teilte. Doch die Kühle, mit der er zustimmte – mit einer winzigen Drehung des Kopfes um die eigene Achse –, ließ es mir nicht geraten erscheinen, mit ähnlichen Annäherungsmanövern fortzufahren. Wonach war ich denn auch auf der Suche?, dachte ich. Reichten mir die gesellschaftliche Bedeutung, die mondäne Wichtigkeit, die unserer Verbindung zukamen, nicht aus? Schon immer war Cattolica der Beste in den a-Klassen gewesen, von der ersten bis zur fünften Klasse des Gymnasiums (ganz zu schweigen von der Grundschule, wo sich die Lehrer auf dem Gang gegenseitig seine Aufsätze zu lesen gaben). Aber auch ich, selbst wenn ich mir hin und wieder eine Pause gönnte, hatte im Grunde immer zu der kleinen Gruppe an der Spitze gehört. Also? War es nicht ganz richtig, daß wir uns als die Bannerträger zweier Heerscharen, die von altersher gegeneinander angetreten waren, so und nicht anders verhielten? Daß im wesentlichen jeder an seinem Platz blieb?
Für gewöhnlich stellten wir im Umgang miteinander die größte Rücksichtnahme, Achtung und Ritterlichkeit zur Schau. War zum Beispiel einer von uns aufgerufen und abgefragt worden und kehrte nun an seinen Platz zurück, dann sparte der andere nicht mit, je nachdem, beifälligem oder trostspendendem Lächeln, nicht mit beglückwünschendem oder auch kameradschaftlich mitfühlendem Händedrücken. Und er sorgte dafür, daß der hinter uns sitzende Mazzanti, der – vollkommen im Bilde über unser Verhältnis und eine Möglichkeit witternd, für sich und Malagù einen Vorteil aus der Situation zu ziehen – gleich zu Beginn ein privates Register angelegt hatte, in dem er Tag für Tag sorgfältig unsere Zensuren eintrug, nun auch wirklich genau die Punkte für den andern notierte und sich als der unparteiische Schiedsrichter, der ergebene und korrekte Buchhalter erwies, der er immer sein wollte. Aber wenn dann die Klassenarbeiten kamen, löste sich das zarte Gespinst gesellschaftlicher Heuchelei jäh wie Nebel in der Sonne. Dann konnte uns keine noch so schwierige Stelle im Griechischen oder Lateinischen zu einer gemeinsamen Anstrengung bewegen. Da arbeitete jeder für sich und hütete eifersüchtig das Resultat seiner eigenen Bemühungen; da geizte jeder mit sich selbst und hätte lieber eine unvollständige oder falsche Übersetzung abgeliefert, als daß er dem andern etwas hätte verdanken müssen. Wie ich es vorausgesehen hatte, übernahmen Droghetti und Camurri, die auf den Bänken vor uns saßen, die Rolle der zuverlässigen Vermittler zwischen Cattolica und den weit vorgeschobenen Vorposten Boldini und Grassi. Wenn die Zeit drängte und Professor Guzzo den Blick von den Korrekturfahnen seiner Arbeit über Sueton hob und mit grausamem Lächeln ankündigte, daß in genau zehn Minuten, und nicht einer mehr, der ›ausgezeichnete‹ Chieregatti die ›Elaborate der Herren‹ einsammeln würde, dann mußte man gesehen haben, wie das Fernsprechnetz der alten a-Klasse funktionierte, mit welch unverschämter Perfektion es wieder in Betrieb gesetzt wurde! In diesen dramatischen Augenblicken war es aus mit dem Lächeln und Händedrücken und mit allen geheuchelten Bekundungen liebenswürdiger Kameradschaft. Die Maske fiel. Und nun zeigte sich mir das sonst so glatte Gesicht Cattolicas, verzerrt von ehrgeiziger Anspannung, wie es wirklich war, in seiner ganzen Feindseligkeit und Gehässigkeit. Es zeigte sich endlich nackt.
Und doch, obwohl ich ihn verabscheute, bewunderte und beneidete ich ihn.
Es gab kein Fach, in dem er nicht vollkommen war, in Italienisch wie in Latein, in Griechisch wie in Geschichte und Philosophie, in Biologie, Mathematik und Physik nicht anders als in Kunstgeschichte, ja sogar im Turnen (vom Religionsunterricht war ich befreit, nahm also nicht am Unterricht Don Fonsecas teil, doch ich zweifelte nicht, daß Cattolica auch bei dem ›Priester‹ ein Musterschüler war); ich haßte seine geistige Klarheit und neidete sie ihm zugleich wie das luzide Funktionieren seines Hirns. Was für ein Wirrkopf war ich, verglichen mit ihm! Zwar war ich im italienischen Aufsatz vielleicht besser als er. Aber natürlich nicht immer; es kam auf die Aufgabe an; die eine machte mir Freude, die andere nicht; und wenn mir ein Thema nicht zusagte, war nichts zu machen; da war es schon viel, wenn ich sechs Punkte bekam. So war ich vielleicht im mündlichen Übersetzen in Latein und Griechisch brillanter (Guzzo hatte mir nach dem anfänglichen Geplänkel sein Wohlwollen geschenkt; wenn wir Homer oder Herodot lasen – vor allem Herodot –, wandte er sich fast immer an mich, um, wie er sagte, ›die genaue Übersetzung‹ zu hören), aber im Schriftlichen, besonders bei der Übersetzung aus dem Italienischen ins Lateinische, war mir Cattolica klar überlegen. Er hatte die ausgefallensten kleinen Regeln der Formenlehre und Syntax im Kopf und irrte sich praktisch nie. Sein Gedächtnis erlaubte ihm zum Beispiel, in der Geschichtsstunde Dutzende und Aberdutzende von Daten, wie aus der Pistole geschossen und ohne sich nur einmal zu irren, anzugeben. Oder vor der vor Wonne schier zerfließenden Krauss in der Biologiestunde die Klassen der Wirbellosen aufzusagen – so sicher und unbefangen, als läse er sie aus einem Buch ab. Wie machte er das, fragte ich mich. Was verbarg sich in seinem Schädel? Eine Rechenmaschine? Mazzanti zögerte nicht. Nach derartigen Gedächtnisleistungen war er bereit, in sein Register eine Neun, ja, eine Neun plus einzutragen. Und das Tollste dabei war, daß das ›Plus‹ sehr oft auf mich zurückging, der ich mich rasch umgewandt und darauf bestanden hatte, daß Mazzanti es hinzufügte.
Aber das Gefühl meiner Unterlegenheit rührte nicht einmal so sehr vom Vergleich unserer Leistungen in der Schule her als von ganz anderen Dingen.
Da war zuerst der Unterschied in der Größe. Er war groß und hager, ein junger Mann bereits und wie ein junger Mann gekleidet, mit langen Hosen aus grauem Vigogneflanell und einem andersfarbigen Sakko aus einem schweren Stoff – in der Tasche steckte ein Zehnerpäckchen Macedonia-Zigaretten – und einer hübschen Krawatte aus Organdy. Ich dagegen – klein und untersetzt, in meinen ewigen Knickerbockers, in denen ich mich so unglücklich fühlte und für die meine Mutter eine besondere Vorliebe hatte – nahm mich neben ihm nur wie ein kleiner Junge aus. Dann der Sport. Cattolica übte keinen aus. Er verachtete das Fußballspiel, aber nicht deshalb, weil er es nicht beherrschte (er hatte einmal auf dem Platz vor der Kirche del Gesù bei einem Spiel mitgemacht und dabei einen hervorragenden Stil gezeigt), sondern weil Sport ihn nicht interessierte und ihm nur verlorene Zeit bedeutete. Ferner: Für welche Fakultät würde ich mich einmal entscheiden, wenn ich auf die Universität ging? Ich wußte es noch nicht. Heute neigte ich zur Medizin, morgen zur Jurisprudenz, dann wieder zur Literaturwissenschaft. Er dagegen hatte sich nicht nur bereits für das Studium der Medizin entschieden, sondern auch seine Wahl zwischen innerer Medizin und Chirurgie zugunsten der letzteren getroffen. Und schließlich hatte er ein Mädchen, das er liebte und das ihn liebte, das Mädchen aus Bondone. Auf diesem Gebiet fehlte mir noch jede konkrete Erfahrung. (Konnte man Erfahrungen nennen, was ich im Sommer am Strand mit kleinen Mädchen erlebt hatte, dies bißchen Hand-in-Hand-Sitzen, Sich-in-die-Augen-Blicken, einen flüchtigen Kuß auf die Wangen und weiter nichts …?) Er dagegen war richtig verlobt: offiziell, mit einem gewaltigen Ring am Finger. Oh, dieser Ring! Es war ein Saphir, in Weißgold gefaßt, ein imponierender Ring, wie für einen Commendatore – und mir besonders unsympathisch. Und doch, wie sehr wünschte ich mir selbst einen solchen Ring! Wer weiß, dachte ich, um ein Mann zu werden, oder wenigstens um das Mindestmaß an Selbstsicherheit zu gewinnen, das man unbedingt braucht, um als einer zu gelten, konnte solch ein Ring vielleicht von großem Nutzen sein.