Da aber die fünftausend Livres ausblieben, so konnte er sich’s auch weiter nicht besonders wohl sein lassen.
Sein Leben verlief hübsch gleichmässig, ohne irgendwelche besondere Ereignisse, ohne Aufregungen und fast sogar ohne Hoffnungen. Da sein Ehrgeiz kein übergroßer war, so beschränkte sich auch die Fähigkeit zu hoffen, die doch ein jeder hat, bei ihm nur auf ein sehr geringes Mass.
Mit einundzwanzig Jahren war er bei Herrn Labuze & Co. eingetreten und stets in diesem Geschäft verblieben.
Im Jahre 1856 verlor er seinen Vater und bald darauf, 1859, die Mutter; seitdem hatte sich in seinem Leben nichts von Bedeutung mehr ereignet, ausser einem Umzug, weil sein bisheriger Hausherr neubauen wollte.
Alle Tage punkt 6 Uhr erwachte er durch das knarrende Geräusch eines Ketten-Aufzuges und sprang dann sofort aus dem Bette.
Zweimal indessen, im Jahre 1866 und 1874, hatte dieser Mechanismus versagt, ohne dass er jemals die Ursache erfahren hätte.
Im Übrigen pflegte er sich dann sofort anzuziehen, sein Bett zu ordnen, das Zimmer zu kehren, seinen Sessel und den Kommoden-Aufsatz abzustauben. Alle diese Verrichtungen nahmen anderthalb Stunden in Anspruch.
Hierauf ging er fort, kaufte sich in der Bäckerei Lahure, die, solange er sie kannte, elf Inhaber gehabt hatte, ohne ihren Namen zu wechseln, ein Brödchen, welches er im Weitergehen verzehrte.
Sein ganzes Leben spielte sich also lediglich in diesem engen Büro ab, dessen Wände mit ungemustertem Papier beklebt waren. Er war, wie gesagt, sehr jung als Gehilfe eines Herrn Brument ins Geschäft getreten und hatte nur den einen Wunsch gehabt, recht bald dessen Stelle zu erhalten.
Dieser Wunsch ging in Erfüllung und nun wünschte er sich weiter nichts mehr.
Alle die vielen Erinnerungen, welche das Leben anderer Menschen ausfüllen, die unerwarteten Ereignisse, die angenehmen oder tragischen Liebschaften, alle die Zufälligkeiten eines wechselvollen Daseins waren ihm fremd geblieben.
Die Tage, Wochen, Monate, Jahreszeiten und Jahre blieben sich stets gleich. Täglich zur selben Stunde stand er auf, ging fort, trat ins Büro, frühstückte, ging wieder fort, dinierte und legte sich schlafen, ohne dass irgendetwas Bedeutsames dies gleichförmige Leben derselben Handlungen, derselben Arbeiten, ja sogar derselben Gedanken unterbrochen hätte.
Früher hatte er seinen blonden Schnurrbart und sein lockiges Haar in dem kleinen runden Spiegel geschaut, den sein Vorgänger dagelassen hatte. Jetzt sah er jeden Abend vor dem Fortgehen seinen weißen Bart und seine kahle Stirn in demselben Spiegel. Vierzig Jahre waren dahingegangen, langsam und doch schnell, öde wie Tage der Trauer, und ähnlich den Stunden einer schlaflosen Nacht! Vierzig Jahre, von denen ihm kaum eine Erinnerung und nach dem Tode seiner Eltern sogar kaum der Gedanke an ein Unglück, in der Tat gar nichts, übrig geblieben war.
*
An diesem obenerwähnten Tage blieb Herr Levas, geblendet vom Lichte der untergehenden Sonne, einen Augenblick unter der Haustür stehen, und anstatt nach Hause zu gehen, beschloss er, vor dem Diner einen kleinen Spaziergang zu machen, was ihm höchstens vier oder fünf mal im Jahre passierte.
Er gelangte auf die Boulevards, wo eine zahllose Menschenmenge unter den grünenden Bäumen auf- und abflutete. Es war ein Frühlingsabend, einer jener ersten warmen und linden Abende, in denen das Herz unwillkürlich von einer grösseren Lebenslust beseelt wird.
Herr Levas ging mit dem tänzelnden Schritt alter Herren vergnügten Blickes und beglückt durch die allgemeine Lustigkeit und die linde Luft.
Er kam zu den Champs-Elysees und ging weiter, neubelebt durch den Jugendhauch der Frühlingsluft. Der ganze Himmel war wolkenrein und der Triumphbogen hob sich von dem lichten Hintergrund des Horizontes wie ein Riese von einer Feuersbrunst ab. Als er in die Nähe dieses mächtigen Denkmals gekommen war, verspürte der alte Buchhalter plötzlich Hunger, und er trat bei einem Marchand de Vins ein, um zu speisen.
Das Diner wurde ihm vor dem Lokale auf dem Trottoir serviert: Eine garnierte Schöpskeule, Salat und Spargel; Herr Leras glaubte lange nicht so gut gespeist zu haben. Er begoss seinen Fromage de Brie mit einer halben Flasche guten Bordeaux, dann trank er eine Tasse Kaffee, ein seltenes Ereignis, und krönte das Ganze mit einem Gläschen Fine Champagner.
Nachdem er bezahlt hatte, war er sehr lustig und aufgeräumt, etwas angeheitert sogar.
»Das ist ein schöner Abend«, sagte er sich. »Ich werde meinen Spaziergang bis ans Bois de Boulogne fortsetzen; es wird mir gut tun.«
Gesagt, getan.
Ein altes Lied, welches früher ’mal eine seiner Nachbarinnen gesungen hatte, schoss ihm plötzlich durch den Kopf:
»Wenn der Frühling aus den Knospen bricht,
Zu mir mein Herzallerliebster spricht:
Komm heraus, mein Schatz, in die frische Luft,
Wir kosen zusammen im Jasminduft.«
Er summte es immer wieder vor sich hin. Die Nacht sank über Paris herab, eine windstille laue Nacht. Herr Levas ging der Avenue du Bois de Boulogne nach und schaute sich die vorbeifahrenden Fiaker an, wie sie in langer Reihe, einer hinterm anderen, mit ihren Lichtaugen dahinfuhren und für einen Augenblick ein eng aneinander geschmiegtes Pärchen, die Dame in lichtem Kleid, der Herr in schwarzem Anzuge, zeigten.
Es war sozusagen eine lange Prozession von Liebespaaren, die da unter dem glänzenden Sternenhimmel einherzogen. Immer und immer kamen wieder neue. Sie fuhren eins hinter dem anderen her, auf dem Wagensitz hingegossen, stumm, mit verschlungenen Händen, kaum noch fähig, die Aufregung zu bemeistern, welche die Vorstellung der ihrer wartenden Freuden bei ihnen erweckte. Es schien, als ob zahllose Küsse durch die warme Nachtluft schwirrten, als ob ein Hauch von Zärtlichkeit sie erfülle und sie erstickender mache. Hinter all diesen liebesdürstigen und lächelnden Menschen, die alle von demselben Gedanken, alle von derselben Erwartung beseelt waren, zog