Dafür gibt es ein Vorbild, es ist der Patron meiner Heimatkirche und meiner Heimatdiözese, der heilige Martin von Tours. Mit der Mantelteilung hat er sich als Ikone christlicher Nächstenliebe bis heute ins Gedächtnis eingeprägt. Ein Mosaik in San Vitale in Ravenna zeigt ihn zudem als Ersten in der Reihe der Bekenner aus der Schule des Kirchenvaters Hilarius, der gegen die Arianer die wahre Gottheit Jesu Christi verteidigt hat. Folgt man schließlich seiner Lebensbeschreibung bei Sulpicius Severus, so hat er nach der konstantinischen Wende, als sich die meisten Bischöfe erstaunlich rasch in die imperiale Kirche einpassten, das vorkonstantinische mönchische Ideal des Bischofs beibehalten. Für mich ist der heilige Martin als Bischof zwischen den Zeiten das Leitbild eines Bischofs in einer nicht-klerikalistisch bischöflich verfassten Kirche in nachkonstantinischer Zeit, der Patron einer nach dem Corona-Virus sich erneuernden Kirche.
Kurt Kardinal Koch
Die Corona-Krise mit den Augen des Glaubens betrachtet
1. Dunkle Seite des Karsamstags
Unter sehr schwierigen, gleichsam coronaren Bedingungen haben wir Christen in diesem Jahr die Karwoche und das Osterfest begangen. Die wichtigsten Gottesdienste im Kirchenjahr mussten aufgrund staatlicher Verbote in Abwesenheit der Gläubigen bei geschlossenen Kirchentüren gefeiert werden und wurden per Stream nach Hause übertragen. Auch Papst Franziskus hat in der St. Peters-Basilika hinter ihren geschlossenen Portalen die Gottesdienste gefeiert und den großen Apostolischen Segen urbi et orbi ohne die sichtbare Anwesenheit der Stadt und des Erdkreises gespendet. Viele Menschen sind in ihren Wohnungen eingeschlossen gewesen, weil sie in der Quarantäne leben mussten, die bereits von ihrer Wortherkunft (quadraginta, lat.: »vierzig«) her an die vierzigtägige Österliche Bußzeit erinnert. Auf diesem außergewöhnlichen und düsteren Hintergrund ist mir wie selten zuvor ein Detail in der biblischen Ostergeschichte neu bewusst geworden. Der Evangelist Johannes beginnt seinen Bericht über die Erscheinung des auferstandenen Christus bei seinen Jüngern mit den Worten: »Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten …« (Joh 20,19). Wiewohl der Herr bereits auferstanden und auf dem Weg zu den Jüngern war, lebten sie noch ganz am Karsamstag, wie die Angst und die verschlossenen Türen dies anschaulich zum Ausdruck bringen.
Die Zeit der Corona-Krise, die in unseren Breitengraden kurz nach dem Beginn der Fastenzeit virulent geworden ist, hat auf viele Menschen wie ein verlängerter und ausgedehnter Karsamstag gewirkt. Der Karsamstag ist in der christlichen Liturgie der Tag des Begräbnisses Gottes, seiner Verborgenheit und seines Schweigens in der Geschichte der Menschen und damit der Tag, an dem die großen Hoffnungen infrage gestellt worden sind. Für viele Menschen heute ist der Karsamstag zum Symbol für ihre Lebenssituation in der Corona-Krise geworden, genauer zum Symbol für die vielen Ängste, die im Blick auf das eigene Leben und dasjenige von vielen lieben Mitmenschen wach geworden sind, und für die große Ungewissheit im Blick auf die Zukunft, vor allem im Blick auf die Frage, ob und wann die Krise zu Ende gehen und wie das Leben nach der Krise sein werde.
Angesichts dieser existenziellen Herausforderung stellt sich die Frage, wie man auf diese Krise antworten soll und reagieren darf. Soll man die Corona-Krise einfach als eine Erscheinung der Natur nehmen, die ungefähr alle hundert Jahre in solchem Exzess stattfindet, die gewiss auch diesmal vorübergehen wird und die man so gut wie möglich überstehen soll? Soll man alle Hoffnung auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler, vor allem der Virologen setzen, auf die Erfindung eines wirksamen Impfstoffes warten und in der Zwischenzeit jene Verhaltensweisen praktizieren, die uns von den Experten nahegelegt werden? Oder soll man die Corona-Krise auch religiös deuten und spirituell zu leben und überwinden versuchen?
2. Natur und Gnade erkennen und anerkennen
Alle diese Wege werden heute beschritten. Dass es sich dabei jedoch nicht um Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen, handeln kann, wird dann einsehbar, wenn wir uns an einer Grundüberzeugung des katholischen Glaubens orientieren, die besagt: Gratia supponit naturam et perficit eam – Die Gnade setzt die Natur voraus und vollendet sie. Denn in dieser Glaubensüberzeugung ist zusammengehalten, was sich nicht trennen lässt.
Wenn wir diese Wegweisung ernst nehmen, sind wir in erster Linie gehalten, auf die Natur zu achten und auf die Experten zu hören, die uns helfen, das Natur-Phänomen des Corona-Virus zu verstehen, und die uns raten, wie wir mit diesem Phänomen umzugehen, und vor allem, welche hygienischen Schutzmaßnahmen wir anzuwenden haben. Diese Ebene der Natur darf man auch und gerade als gläubiger Mensch nicht überspringen, indem man sich auf die Gnade Gottes allein berufen und der Devise folgen würde, dass Gott allein aufgrund der Gebete der Gläubigen die Krise überwinden werde und dass es deshalb Anzeichen von Unglauben wäre, wenn man seine Hoffnung auch auf die vom Staat angeordneten Schutzmaßnahmen setzt. Mit einem solchen Überspringen der Ebene der Natur läuft man Gefahr, zur weiteren Verbreitung des Virus beizutragen. Damit würde man jedoch ein Handeln an den Tag legen, das quer zur Botschaft des christlichen Glaubens von einem Gott steht, der das Leben der Menschen und der ganzen Schöpfung liebt, das deshalb auch von uns Menschen geschützt werden muss.
Eine solche Haltung wird mit Recht als fundamentalistisch und extrem eingestuft. Es gibt heute aber auch die andere extreme Einstellung, die allein auf die Natur und ihre Experten vertraut und sich deshalb jede religiöse Deutung der Corona-Krise verbietet und die Gnade Gottes außenvor lässt. Die Vertreter dieser Haltung werfen den sogenannten Fundamentalisten vor, sie würden Gott versuchen und mit ihren Gebeten ihn zum Eingreifen in die Natur zwingen wollen. Umgekehrt müssen sich aber die Vertreter dieser Sicht die Frage gefallen lassen, ob nicht auch sie auf ihre Weise Gott versuchen, indem sie ihm vorschreiben, wie und wo er auf keinen Fall handeln darf und dass er sich auf jeden Fall an die Naturgesetze zu halten habe. Solche Extrempositionen sind heute leider auch aus Studierstuben von Theologen zu vernehmen, so wenn beispielsweise schlicht behauptet wird, man solle seine Hoffnung auf die Virologie und nicht auf den Glauben, auf die Erfindung einer Impfung und nicht auf das Gebet setzen, wenn man nicht ein veraltetes Weltbild vertreten wolle. In eine ähnliche Richtung zielt das Verdikt, Formen der katholischen Frömmigkeit wie eucharistische Anbetung und eucharistischer Segen würden heutigem aufgeklärtem Bewusstsein nicht entsprechen und seien deshalb als »retrokatholisch« zu denunzieren.
Woher aber wissen solche theologische Stimmen denn so genau, wie Gott wirkt und wo seine Grenzen sind, die er nach menschlichen Vorstellungen zu respektieren habe? Steht dahinter nicht jene Annahme, die sich in der neuzeitlichen Theologie immer mehr durchgesetzt hat, Gott könne allein in den Geist des Menschen hinein handeln, mit allem Materiellen könne er sich aber nicht befassen? Diese Mentalität, die das Handeln Gottes nur im Geistigen zulässt, ihm aber das Materielle und Leibliche nicht zugesteht, hat Papst Benedikt XVI. treffend als »subtilen neuen Gnostizismus« beurteilt, der Gott und seiner Macht die Materie prinzipiell entzieht und der heute ausgerechnet trotz und bei aller Lobpreisung des Materiellen und Leiblichen propagiert wird. Während Gott auf die Innerlichkeit der menschlichen Subjektivität reduziert wird, hat er in der Welt der Materie nichts zu suchen, da die objektive Welt anderen Gesetzen gehorche. Es ist aber nicht einzusehen, wie mit solchen weltanschaulichen Vorentscheidungen theologisch überhaupt noch von Wundern und erst recht vom größten Wunder der Auferstehung Jesu Christi aus dem Tod gesprochen werden kann. In der Konsequenz rechnet man dann auch im Blick auf die Auferstehung des Herrn nur noch mit göttlichem Einwirken auf den Geist und verkündet nicht mehr, dass Christus lebt, sondern redet nur noch davon, dass »die Sache Jesu weitergeht«.
Die Heilige Schrift geht demgegenüber von einer viel großzügigeren Sicht vom Wirken Gottes auch in der Schöpfung aus, wenn beispielsweise Paulus bekennt: »Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden« (Röm 8,22–23). Und es ist kein Zufall, dass diese sehnsüchtige Hoffnung in die Zuversicht des Gebetes mündet: »So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der