„Nein, du bist echt“, stutzte der Kleine, ehe er etwas zaghaft auf Marie zuging. „Du hilfst dem Christkind, oder?“ Seine kindliche, aufrichtige Neugier beeindruckte das Mädchen sehr, doch etwas in seinem Blick verriet auch seine Trauer.
Erst jetzt nahm Marie das Zimmer genauer unter die Lupe. Die Wände könnten neue Farbe gebrauchen, von dem abgenutzten Teppich mal ganz abgesehen. Der Vorhang war halb abgerissen und die Möbel standen zusammengewürfelt im Raum. Alles hier wirkte alt und ungeliebt.
Marie konnte die nächsten Worte kaum aussprechen, als sie in die großen und unschuldigen Augen des Jungen sah. „Ja, ich helfe, die Geschenke auszuteilen.“ Wenn sie schon dachte, dass die Sonne hell leuchten konnte, so war es nichts im Vergleich zu der strahlenden Freude des Jungen.
„Das ist ja toll!“ Marie war sich sicher, ihr würden heute noch Tränen die Wangen hinunterlaufen.
„Wie heißt du denn?“, fragte sie und kniete sich vor ihm hin. Er war etwas kleiner als sie, bemerkte das Mädchen.
„Leon“, sagte er freudig.
„Gut, du scheinst brav gewesen zu sein, also habe ich ein schönes Geschenk für dich.“
Der Junge freute sich riesig, als er vorsichtig das Paket öffnete und hineinblinzelte.
„Ein Fußball! So einen habe ich mir schon so lange gewünscht!“ Obwohl sich Marie nichts daraus machen konnte, schien es für Leon alles zu bedeuten. „Mein Papa wollte mir immer schon einmal zeigen, wie das Fußballspielen geht, doch er schaffte es leider nicht mehr.“ Sie erkannte, dass Leon nun Tränen in die Augen traten.
Marie wollte noch so viel fragen, sie wollte mehr von ihm wissen.
Warum war dieses einfache Geschenk so wichtig?
Und was war mit seinem Vater geschehen?
War er einer jener Kinder, die keine unbeschwerte Kindheit hatten?
Doch bevor sie sich richtig verabschieden konnte, wurde sie wieder von diesem warmen Licht umgeben und aus dem Raum gezogen. Marie würde sich noch lange an das Gesicht des Jungen erinnern und auch an all jene Erfahrungen, die sie beim Christkind erlebt und mit nach Hause genommen hatte.
Michaela Secklehner (26) aus Sankt Georgen an der Gusen stammend, wurde zu Weihnachten das Christkind als Glaubenssymbol gelehrt und in ihrem Heimatland Österreich ist es besonders geschätzt. Deshalb bekam dieser Engel eine große Rolle in ihrer Kurzgeschichte. Nicht nur Malen (mittels Leinwand und Acrylfarben) und Zeichnen (vor allem mit Bleistift und Kohle) gehören zu ihren Leidenschaften, in ihrer Freizeit widmet sie sich auch dem Theaterspielen sowie dem Schreiben von Kurzgeschichten. Einige von ihnen wurden schon in Anthologien veröffentlicht.“
*
Der Schneeflockenwunsch
Emma saß an ihrem Fenster und schaute dem Treiben der Schneeflocken im kalten Winterwind zu. Es sah fast so aus, als würden sie tanzen und als würden es immer mehr kleine Tänzer werden, je weiter Emma nach oben in den Himmel schaute. Emma musste lachen, als plötzlich eine freche Schneeflocke direkt vor ihr auf der Scheibe landete und genau dort kleben blieb, wo Emma ihre Nase gegen das Glas gedrückt hatte. Doch dann erschrak Emma, als sie das Bimmeln der Glocke hörte, das sie und die anderen Kinder im Waisenheim daran erinnerte, dass es jetzt Zeit fürs Abendbrot war.
Emma ging aus ihrem Zimmer und kam auf dem Flur an dem Tannenbaum vorbei, den die Kinder erst gestern alle zusammen geschmückt hatten. Emma hatte dieses Jahr etwas ganz Besonderes an den Baum gehängt. Es war ein kleiner goldener Engel in einem weißen Kleid, das ganz besonders schön funkelte und über und über mit goldenem Glitzerpuder bedeckt war.
Der Engel war das letzte Geschenk gewesen, das Emma von ihrer Mutter bekommen hatte, und nun leuchtete er dort oben am Baum und Emma meinte, dass er viel hübscher war als all das Lametta und die Christbaumkugeln und die kleinen Weihnachtsmannfiguren zusammengenommen.
Emma ging weiter in den Speisesaal, wo sie ihre Nase erwartungsvoll in die Luft streckte. Emma hoffte, dass es nach frischen Plätzchen und leckerem Weihnachtsessen duften würde, denn heute war nicht einfach irgendein Abend, heute war einer der schönsten Abende im ganzen Jahr – heute war endlich Heiligabend.
Doch als sie auf den langen, gedeckten Tisch schaute, sah sie bloß einen Teller Suppe, die es jede Woche einmal im Waisenheim gab. Enttäuscht löffelte Emma ihre Suppe. Nach dem Essen sangen alle ein Weihnachtslied und es gab noch eine kleine Weihnachtsgeschichte.
Aber Emma konnte gar nicht mitsingen und auch von der Geschichte bekam sie nur die Hälfte mit. Sie war plötzlich sehr, sehr traurig und vermisste ihre Eltern so sehr. Sie musste an ihre Mutter denken, die an Heiligabend immer alle Hände voll damit zu tun gehabt hatte, Emmas Lieblingsgericht zu kochen, die Kerzen am Weihnachtsbaum anzuzünden, Vatis Krawatte ordentlich zurechtzurücken und die letzten Vorbereitungen für die Bescherung zu treffen.
Zur Weihnachtszeit roch es immer ganz besonders herrlich bei Emma zu Hause, nach frisch geschälten Mandarinen, süßen Plätzchen und warmem Weihnachtstee. Und an Weihnachten durfte Emma immer so lang aufbleiben, bis alle Geschenke ausgepackt, die letzten Plätzchen genascht und die letzten Kerzen ausgegangen waren und ihr vor Müdigkeit langsam die Augen zufielen. Hier im Waisenheim gab es keine Bescherung und alle Kinder wurden, nachdem die Weihnachtsgeschichte vorgelesen war, in ihre Betten geschickt.
Doch Emma konnte heute Abend nicht einschlafen. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals und sie drehte sich hin und her, drückte die Augen ganz fest zu und zählte Schäfchen, aber nichts half. Um endlich an etwas anderes denken zu können, beschloss sie, noch einmal aufzustehen und raus auf den Flur zu gehen. Ganz dunkel war es da jetzt, bis auf einen kleinen leuchtend goldenen Punkt.
„Was ist denn das?“, dachte Emma und ging langsam auf das leuchtende Etwas zu. Da erkannte sie, dass es der kleine Engel war, den sie an den Weihnachtsbaum gehängt hatte. Sein Kleid funkelte noch mehr als vorhin und – Emma musste sich die Augen reiben – lächelte der Engel tatsächlich? Aber ja, ganz eindeutig und jetzt streckte er auch noch seine kleine Hand aus, schwebte auf Emma zu und legte seine kleine zarte Hand auf Emmas.
„Komm mit“, sagte der Engel, „ich möchte dir etwas zeigen.“ Emma wusste nicht recht, wie ihr geschah, aber bald war sie mit dem Engel zusammen draußen zwischen den schön tanzenden Schneeflocken und der Engel, der ihr jetzt viel größer vorkam als vorhin, nahm sie bei der Hand und stieg hoch mit ihr in die Luft.
Emma sah alles von ganz weit oben und die Häuser sahen unter ihr aus wie kleine Spielzeughäuschen. Überall leuchteten kleine Lichter und die Bäume trugen alle eine dicke Mütze aus Schnee. Emma lachte vergnügt und konnte sich gar nicht sattsehen, bis der Engel zur Landung ansetzte. Sie landeten mitten auf einer kleinen Lichtung. Emma sah sich um. Um sie herum war dunkler Wald, aber auf der Lichtung war es hell und alles schimmerte in einem silbrigen Licht.
„Das ist ein Zauberort, liebe Emma“, sagte der Engel. „In der Weihnachtsnacht sind alle Schneeflocken verzaubert und du darfst dir heute Nacht eine Schneeflocke fangen und dir dann etwas wünschen. Es wird ganz sicher in Erfüllung gehen.“
Emma überlegte kurz, aber dann wusste sie sofort, was sie sich wünschte. Nun musste sie nur noch eine ganz besonders schöne Schneeflocke für ihren Wunsch fangen. Sie lief auf der Lichtung auf und ab und versuchte, sich eine Flocke auszusuchen, aber jede einzelne glitzerte wunderschön und sie waren alle viel zu schnell, sodass Emma schon fast aufgeben wollte, als plötzlich eine Schneeflocke direkt auf ihrer Nase landete.
Erleichtert schloss Emma ihre Augen und sprach leise ihren Wunsch aus: „Ich wünsche mir, dass mich der Engel von jetzt an jede Weihnachten besuchen kommt und ich dann nie mehr so traurig sein muss wie heute Abend.“ Sobald Emma das gesagt hatte, schmolz die Schneeflocke auf ihrer Nase und Emma wurde ganz leicht ums Herz, und obwohl es immer doller schneite, war ihr überhaupt nicht