Er stand in den Trümmern einer Halle, von massigen Säulen getragen, voller Schutt und Geröll, mitten im Berg und offen nach allen Seiten. Wohl dreißig Elefanten hätten Schulter an Schulter hier hereingepasst und drei übereinander kaum die Decke berührt. Der Boden war uneben und eingesunken. Ein Windhauch ging, viel zu feucht für diese Saison. Gesträuch, grüner und fetter als draußen, breitete sich überall aus, Ziegen kauten daran und hinterließen ihren Dung. Einige Säulen fehlten ganz, andere waren zur Hälfte heruntergebrochen, die Decke hing durch und alles war voller indischer Götter. Zerhauen, zersplittert, einbeinig, dreiarmig, enthauptet, amputiert, prachtvoll bekrönt wuchsen sie riesenhaft aus den Wänden. Da spielten sie ihre Spiele, samt ihren Vasallen und Weibern. Eine Äffin mit einem Äffchen im Pelz baumelte einem am Armstumpf. Sein Gesicht war dahin. Vogeldreck sprenkelte die zerschlagene Fläche, wo es einmal gewesen war. Nachdem er zu Atem gekommen war, was eine Weile gedauert hatte, begann sich al-Lahuri zu fragen, ob nur der Zahn der Zeit an diesem unerwarteten Bauwerk genagt hatte. Es sah gar zu schrecklich aus. Vielleicht hatte hier jemand das Schießen geübt. Vielleicht hatten Portugiesen an den Götzen im Berg ihre Musketen erprobt oder eine kleine Kanone. Misstrauisch blickte er zur Decke hoch und von dort zu den fehlenden Säulen. Vielleicht hatten sie tragende Strukturen heruntergeschossen. Bei Portugiesen wusste man nie.
Er ging die Felswand entlang, wahrscheinlich gen Westen. Der Tunnel hatte seinen Richtungssinn verwirrt. In der Ferne, hinter vielen geborstenen Säulen, hinter Ziegen, Schutt und Knäulen schlafender Affen lag durch Stufen erhöht eine gesonderte Kammer, die vier kolossale Gestalten bewachten. Dahinter und auch dort, wo wohl Norden war, öffneten sich große Portale. Dort ging es ins Freie. Dort blickte man gewiss hinunter aufs Meer. Etwas glitt knisternd an Musas Stock vorbei, keine Schlange, vielleicht eine Ratte.
Linkerhand kam ein Kopf aus der Wand, so hoch wie zwei Elefanten. Zwei weitere Köpfe wuchsen aus seinen Schultern. Alle schliefen in seliger Ruhe und strahlten dabei eine Unruhe aus, die mit Worten kaum zu beschreiben war. Musa grinste.
Da regte sich etwas. Das war keine Ziege. Das war auch kein Affe. Er griff nach dem Säbel. Da hockte ein Mann auf dem Boden. Das war nicht gut. Kein guter Mann würde hier einsam hocken. Langsam schlich er von Säule zu Säule, schräg zu dem Hockenden, im Schatten der Kammer. Dort, bei einem der steinernen Wächter, dem er kaum bis zum Knie reichte, fand er Schutz. Hier konnte ihn der Mann nicht sehen. Er schlich die Stufen hinauf und hinein in die Kammer. Sie war leer. Ein Loch im Boden, der geborstene Rest eines Weihesteins, der elend darin lag, sonst nichts. Beim rückwärtigen Ausgang stellte er sich an die Wand und schob langsam den Kopf vor, bis er den Fremden beobachten konnte.
Es war ein Mann in arabischer Tracht, bärtig, recht jung. Er hantierte mit einem Stab, einem halbarmlangen, schlanken, metallenen Stab, der aus mehreren Teilen zusammengesetzt und auf der einen Seite dicker war als auf der anderen. Damit hockte er einem steinernen Wesen zu Füßen, das sich in hellem Zorn mit verdrehten Augen und gefletschten Zähnen klafterhoch aus der Wand schob. Neben dem Mann lagen Stifte und ein Schreibbrett mit Papier.
Das war kein Araber. Das sah man an seinem Bart. Der war fusselig, hellbraun und durch und durch europäisch. Da hockte ein Europäer im gottverlassenen Berg. Meister Musa ließ seinen Säbel los. Europäer machten ihm keine Angst. Der Mann hatte den Metallstab gehoben und führte die dünne Seite an sein rechtes Auge.
Ein Fernrohr. Musa verbiss sich das Lachen.
Viele Jahre war es her, dass er durch ein Fernrohr geblickt hatte. Es war viel größer gewesen als dieses. Er hatte nur kurz hindurchblicken dürfen. Der Fürst von Jaipur hatte es ihm aus der Hand gerissen, selbst hindurchgeblickt und es nie wieder hergegeben. Man sah lange nichts durch ein Fernrohr, erinnerte er sich, nur die eigenen Wimpern, und wenn man schließlich doch etwas sah, stand es auf dem Kopf. Dass man durch ein Fernrohr erkannte, dass beim Brhaspati-Graha vier Monde waren, wie der Fürst damals überall verkündet hatte, konnte er nicht glauben. Er hatte nie wieder durch ein Fernrohr geblickt und sich auch nicht danach gesehnt.
Da hockte ein Europäer auf Gharapuri und studierte durch ein europäisches Fernrohr die Eckzähne eines indischen Gottes. Dazu fiel Musa nichts ein. Er trat aus der Kammer und wünschte auf Portugiesisch einen guten Tag.
Der Mann ließ das Fernrohr sinken und blickte zu ihm hoch. Er wirkte verwundert, erschrocken nicht. Seine Augen glänzten und sein Gesicht war verschwitzt und fleckig und selbst für einen Europäer viel zu bleich. Seine Lippen waren aufgesprungen. »Wollt Ihr Wasser?«, fragte Musa auf Persisch.
Der Europäer verstand nicht. Er tastete nach seinem Schreibbrett und stand langsam auf. Da wurde er immer noch bleicher.
»Wo kommst du her, mein Sohn?«, fragte Musa auf Arabisch.
Das Gesicht des Europäers war bläulich weiß wie entrahmte Milch. Er zeigte hierhin und dorthin, auf den Wütenden in der Wand, auf die schlafenden Köpfe, auf die Affen, die Ziegen, das Hauptportal. Dann keuchte er »ich, ich« auf Arabisch und dann, unter Qualen, »aus Mu-, aus Ma-, aus Makkah!« Er schwankte, verdrehte die Augen und fiel dem Mann aus Jaipur besinnungslos vor die Füße.
II
Göttingen, A. D. 1759
»Wenn ein Reisender«, rief Professor Michaelis, »den wir für teures Geld nach Arabien schicken, nicht von vornherein weiß, was er dort sehen soll, so wird er überhaupt nichts sehen oder nur läppischen Dreck!« Dabei schlug er die Hacken seiner Reitstiefel zusammen, in denen er stets am Katheder stand.
Michaelis’ Vorlesungen waren teuer, aber immer sehr gut besucht. Zuweilen schlichen Studenten sich gratis hinein, doch ein hünenhafter Bedienter spürte Schmarotzer auf und warf sie hinaus. Wenn Michaelis mit diesem Bedienten erschien, fühlte man sich an David und Goliath erinnert. Manchmal ließ er den Riesen stundenlang neben sich stehen, als wolle er damit sagen, wage nur einer zu lachen. Der Gottesgelehrte Michaelis war ein kleiner Mann mit einer großen und gellenden Stimme. Selbst am Katheder legte er den Degen nicht ab. Seit die Franzosen in der Stadt waren, trug er, für jeden sichtbar, auch ein Pistol durch die Straßen.
Zuweilen spielte er die Bibel vor, wie ein Held des Theaters. Sein Haus in der Rittershäuser Straße war überfüllt, mit Kollegen, mit Studenten, mit seinen Kindern und seinen Büchern, doch noch immer drängten mehr Leute hinein. Letzthin hatte ein Kandidat der Jurisprudenz die Fassade erklommen, um vielleicht durchs Fenster einen Blick auf Michaelis zu erhaschen, wie er als Jakob mit dem Engel rang oder als Potiphars Weib mit Joseph; er war indes abgestürzt und hatte sich den Arm gebrochen.
»Der Gelehrte, ich, wir, hier, daheim in unseren Stuben«, fuhr Michaelis fort, »wir lesen aus unseren Büchern und Gedanken ab, was in den Ländern des Orients zu finden sein wird und wie es uns hilft, die heilige Schrift zu begreifen. Wir stellen nach richtigem Studium die richtigen Fragen. Wir lesen die Bibel und den Koran, sie mit dem rechten, ihn mit dem linken Auge, und stellen im Gehirn die Verbindung her. Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt ein und derselben Sprache, nicht mal völlig so weit entfernt als Obersächsisch und Niedersächsisch, und ich leiere das her wie eine Repetieruhr, bis mir das Schlagwerk erlahmt, und Sie halten immer noch Maulaffen feil. Arabien ist unsere Wiege! Dort spielt sie, die heilige Schrift! Dort fügt sich der Sinn zusammen und Klarheit kehrt ein im Glaubensbegriff. Das Vorurteil ist immer verderblich. Wen Furcht anrührt, dass wir nach Mekka pilgern, um Provision für die Bibelkunde zu suchen – erst in spiritu wir, will ich sagen, und dann, in corpore, unsere Reisenden –, der möge sich in die propädeutische Klippschule scheren! Die Gottesgelehrsamkeit ist eine exakte Wissenschaft. Beklommenheit lähmt uns und Kinderfrömmigkeit fruchtet hier gar nichts, und auch nicht Ihr stupides Gesicht, Sie!«
Er stach mit der Reitgerte in Richtung der ersten Reihe.