Johann Wolfgang Goethe
Briefe aus der Schweiz
Erstdruck in: Werke, Tübingen (Cotta) 1808 als Anhang zum »Werther«.
Impressum
Covergestaltung: Olga Repp
Bearbeitung: Johannes Krüger
Illustrationen: Johann Wolfgang von Goethe
Digitalisierung: Gunter Pirntke
Herausgeber: BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke
ISBN: 9783955017934
2015 andersseitig
andersseitig Verlag
Dresden
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Erste Abteilung
Als vor mehreren Jahren uns nachstehende Briefe abschriftlich mitgeteilt wurden, behauptete man, sie unter Werthers Papieren gefunden zu haben, und wollte wissen, daß er vor seiner Bekanntschaft mit Lotten in der Schweiz gewesen. Die Originale haben wir niemals gesehen und mögen übrigens dem Gefühl und Urteil des Lesers auf keine Weise vorgreifen; denn, wie dem auch sei, so wird man die wenigen Blätter nicht ohne Teilnahme durchlaufen können.
Teufelsstein
Wie ekeln mich meine Beschreibungen an, wenn ich sie wieder lese! Nur dein Rat, dein Geheiß, dein Befehl können mich dazu vermögen. Ich las auch so viele Beschreibungen dieser Gegenstände, ehe ich sie sah. Gaben sie mir denn ein Bild oder nur irgendeinen Begriff? Vergebens arbeitete meine Einbildungskraft, sie hervorzubringen, vergebens mein Geist, etwas dabei zu denken. Nun steh ich und schaue diese Wunder, und wie wird mir dabei? Ich denke nichts, ich empfinde nichts und möchte so gern etwas dabei denken und empfinden. Diese herrliche Gegenwart regt mein Innerstes auf, fordert mich zur Tätigkeit auf, und was kann ich tun, was tue ich! Da setz ich mich hin und schreibe und beschreibe. So geht denn hin, ihr Beschreibungen! betriegt meinen Freund, macht ihn glauben, daß ich etwas tue, daß er etwas sieht und liest!
Frei wären die Schweizer? frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weismachen kann! besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwarm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immerfort, man hört bis zum Überdruß, sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien und Philistereien, und da draußen auf den Felsen ist's auch wohl der Mühe wert, von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmeltier gefangengehalten wird.
Teufelsbrücke
Pfui, wie sieht so ein Menschenwerk, und so ein schlechtes, notgedrungenes Menschenwerk, so ein schwarzes Städtchen, so ein Schindel- und Steinhaufen mitten in der großen, herrlichen Natur aus! Große Kiesel- und andere Steine auf den Dächern, daß ja der Sturm ihnen die traurige Decke nicht vom Kopfe wegführe, und den Schmutz, den Mist! und staunende Wahnsinnige! – Wo man den Menschen nur wieder begegnet, möchte man von ihnen und ihren kümmerlichen Werken gleich davonfliehen.
Daß in den Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund, und meine andere Grille kann ich auch nicht aufgeben, ob du mich gleich schon oft für einen Schwärmer erklärt hast. Wir fühlen auch die Ahnung körperlicher Anlagen, auf deren Entwickelung wir in diesem Leben Verzicht tun müssen: so ist es ganz gewiß mit dem Fliegen. So wie mich sonst die Wolken schon reizten, mit ihnen fort in fremde Länder zu ziehen, wenn sie hoch über meinem Haupte wegzogen, so steh ich jetzt oft in Gefahr, daß sie mich von einer Felsenspitze mitnehmen, wenn sie an mir vorbeiziehen. Welche Begierde fühl ich, mich in den unendlichen Luftraum zu stürzen, über den schauerlichen Abgründen zu schweben und mich auf einen unzugänglichen Felsen niederzulassen. Mit welchem Verlangen hol ich tiefer und tiefer Atem, wenn der Adler in dunkler, blauer Tiefe unter mir über Felsen und Wäldern schwebt und in Gesellschaft eines Weibchens um den Gipfel, dem er seinen Horst und seine Jungen anvertrauet hat, große Kreise in sanfter Eintracht zieht. Soll ich denn nur immer die Höhe erkriechen, am höchsten Felsen wie am niedrigsten Boden kleben und, wenn ich mühselig mein Ziel erreicht habe, mich ängstlich anklammern, vor der Rückkehr schaudern und vor dem Falle zittern?
Mit welchen sonderbaren Eigenheiten sind wir doch geboren! Welches unbestimmte Streben wirkt in uns! Wie seltsam wirken Einbildungskraft und körperliche Stimmungen gegeneinander! Sonderbarkeiten meiner frühen Jugend kommen wieder hervor. Wenn ich einen langen Weg vor mich hin gehe und der Arm an meiner Seite schlenkert, greif ich manchmal zu, als wenn ich einen Wurfspieß fassen wollte; ich schleudre ihn, ich weiß nicht auf wen, ich weiß nicht auf was; dann kommt ein Pfeil gegen mich angeflogen und durchbohrt mir das Herz; ich schlage mit der Hand auf die Brust und fühle eine unaussprechliche Süßigkeit, und kurz darauf bin ich wieder in meinem natürlichen Zustande. Woher kommt mir die Erscheinung? was soll sie heißen, und warum wiederholt sie sich immer ganz mit denselben Bildern, derselben körperlichen Bewegung, derselben Empfindung?
Man sagt mir wieder, daß die Menschen, die mich unterwegs gesehen haben, sehr wenig mit mir zufrieden sind. Ich will es gern glauben, denn auch niemand von ihnen hat zu meiner Zufriedenheit beigetragen. Was weiß ich, wie es zugeht, daß die Gesellschaften mich drücken, daß die Höflichkeit mir unbequem ist, daß das, was sie mir sagen, mich nicht interessiert, daß das, was sie mir zeigen, mir entweder gleichgültig ist oder mich ganz anders aufregt. Seh ich eine gezeichnete, eine gemalte Landschaft, so entsteht eine Unruhe in mir, die unaussprechlich ist. Die Fußzehen in meinen Schuhen fangen an zu zucken, als ob sie den Boden ergreifen wollten, die Finger der Hände bewegen sich krampfhaft, ich beiße in die Lippen, und es mag schicklich oder unschicklich sein, ich suche der Gesellschaft zu entfliehen, ich werfe mich der herrlichen Natur gegenüber auf einen unbequemen Sitz, ich suche sie mit meinen Augen zu ergreifen, zu durchbohren und kritzle in ihrer Gegenwart ein Blättchen voll, das nichts darstellt und doch mir so unendlich wert bleibt, weil es mich an einen glücklichen Augenblick erinnert, dessen Seligkeit mir diese stümperhafte Übung ertragen hat. Was ist denn das, dieses sonderbare Streben von der Kunst zur Natur, von der Natur zur Kunst zurück? Deutet es auf einen Künstler, warum fehlt mir die Stetigkeit? Ruft mich's zum Genuß, warum kann ich ihn nicht ergreifen? Man schickte uns neulich einen Korb mit Obst, ich war entzückt wie von einem himmlischen Anblick; dieser Reichtum, diese Fülle, diese Mannigfaltigkeit und Verwandtschaft! Ich konnte mich nicht überwinden, eine Beere abzupflücken, eine Pfirsche, eine Feige aufzubrechen. Gewiß, dieser Genuß des Auges und des innern Sinnes ist höher, des Menschen würdiger, er ist vielleicht der Zweck der Natur, wenn die hungrigen und durstigen Menschen glauben, für ihren Gaum habe sich die Natur in Wundern erschöpft. Ferdinand kam und fand mich in meinen Betrachtungen, er gab mir recht und sagte dann lächelnd mit einem tiefen Seufzer: »Ja, wir sind nicht wert, diese herrlichen Naturprodukte zu zerstören, wahrlich, es wäre schade! Erlaube mir, daß ich sie meiner Geliebten schicke.« Wie gern sah ich den Korb wegtragen! wie liebte ich Ferdinanden! wie dankte ich ihm für das Gefühl, das er in mir erregte, über die Aussicht, die er mir gab. Ja, wir sollen das Schöne kennen, wir sollen es mit Entzücken betrachten und uns zu ihm, zu seiner Natur zu erheben suchen; und um das zu vermögen, sollen wir uns uneigennützig erhalten, wir sollen es uns nicht zueignen, wir sollen es lieber mitteilen, es denen aufopfern, die uns lieb und wert sind.
Was bildet man nicht immer an unserer Jugend! Da sollen wir bald diese, bald jene Unart