Vor allem den Franzosen, mit anderer Argumentation aber auch den sowjetischen Anklägern, war nicht nur der Anklagepunkt des Angriffskriegs im Grund fremd. Insbesondere das amerikanische Konzept der „Verschwörung“ lehnten sie erkennbar ab. Das Rechtsprinzip des „fair trial“, der Garantien einer fairen Verteidigung, wurde wiederum von den Amerikanern besonders hochgehalten, während es für die sowjetischen Vertreter kein Thema war. Solche Unterschiede ziehen sich bis in die Urteilsfindung, bei der Sowjets und Franzosen für alle Angeklagten die Todesstrafe verlangten, während Briten und vor allem Amerikaner für differenzierte Urteile stimmten.
Über die Formulierung der Anklagepunkte und die juristischen Begrifflichkeiten hinaus werden in den Reden aber auch die unterschiedlichen Erfahrungen deutlich, aus denen heraus die vier Ankläger argumentierten. So war etwa das französische Anklägerteam aus prominenten Vertretern der Résistance gegen die deutsche Besatzung zusammengesetzt. Ihre Anklage gegen die NS-Verbrecher verstand sich zugleich als eine Verteidigung Frankreichs gegen den Vorwurf der Kollaboration. Aus der Besatzungserfahrung und aus der langjährigen Nachbarschaft zu Deutschland mag sich auch erklären, dass die französische Anklage, anders als vor allem Jackson, die Deutschen für kollektiv mitschuldig ansah und schon von daher, abgesehen von der fehlenden Rechtstradition, mit der Verschwörungsthese der Amerikaner wenig anfangen konnte, implizierte diese doch die Begrenzung der Verantwortlichkeit auf eine begrenzte Zahl von „Verschwörern“.7
Die amerikanische Anklage setzte die Akzente genau umgekehrt. Innerhalb der US-Regierung war Robert H. Jackson ein entschiedener Gegner der durchaus vorhandenen Vertreter einer Kollektivschuldthese und der daraus folgenden politischen Strategien gewesen. Seine Betonung einer umfassenden „Verschwörung“ der Angeklagten zur Begehung ihrer Verbrechen machte politisch Sinn im Zusammenhang der sehr bald auf Wiederaufbau und Wiedereingliederung eines von Nazis bereinigten Deutschlands gerichteten amerikanischen Besatzungspolitik. Sie entsprang aber auch einer genuin amerikanischen Rechtsfigur in der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und organisiertem Verbrechen, an der Jackson in seiner Zeit im Justizministerium beteiligt gewesen war.
Für die Amerikaner wiederum war der Angriffskrieg das wesentliche Ziel dieses verschwörerischen „Nazi-Plans“. Die Sowjets hingegen klagten nicht, wie Amerikaner und Briten, den Angriffskrieg als grundsätzlichen Völkerrechtsverstoß an, sondern den konkreten Angriffskrieg gegen ihr Land. Für Frankreich wiederum stand weniger der Angriffskrieg als die Verbrechen gegen die Menschheit bzw. das „Verbrechen gegen den menschlichen Geist“ im Mittelpunkt.
Es sind gerade auch solche Unterschiede, die es lohnen, die Anklagereden genau zu lesen. Die einführenden Essays dieses Bandes sollen dabei Hintergrundinformation liefern, Botschaften auch zwischen den Zeilen der Reden beleuchten und insgesamt helfen, sie im zeitgeschichtlichen politischen und juristischen Kontext zu lesen. Auch die durchaus ungewöhnlichen Biografien der Ankläger verdienen Interesse, denn keiner der Ankläger war durch seine bisherige berufliche Laufbahn auf ein solches Verfahren auf der Basis „revolutionärer Grundlagen“ – so der britische Ankläger Shawcross – vorbereitet. Gleichwohl, auch das wird in den Essays herausgearbeitet, repräsentieren die Reden nicht nur die individuellen Ansichten der vier Ankläger, sondern das Ergebnis intensiver und oft kontroverser Diskussionen in den einzelnen Ländern. Hinter ihrer oft geschliffenen Rhetorik verbirgt sich ein nüchternes Fazit dieser Diskussionen.
Doch die hier wieder vorgelegten Texte waren ja gesprochene Reden, rhetorisch eindrucksvolle Reden, und müssen als solche gelesen und gewürdigt werden. Von den vier Eröffnungsreden und den vier Schlussplädoyers wird hier je eine Rede der vier Mächte nachgedruckt und mit kommentierenden Essays begleitet. Bei den Anklägern der USA, Frankreichs und der Sowjetunion haben wir uns für die Eröffnungsrede entschieden, weil in ihnen die grundlegenden Ideen der jeweiligen Anklage am deutlichsten formuliert sind. Beim britischen Ankläger bringen wir dagegen die Schlussrede, weil sie die substantiellere der beiden großen Reden ist und weil in ihr, in Absprache mit den übrigen Anklägern, noch einmal eine Gesamtsicht auf die Anklage und eine gebündelte juristische Antwort auf die Einwände der Verteidiger zum Tragen kommen sollte.
Die Textgrundlage für die hier neu gedruckten und kommentierten Anklagereden ist die Fassung, wie sie in den Bänden 2 (Jackson), 5 (de Menthon), 7 (Rudenko) und 19 (Shawcross) der deutschen Ausgabe der Protokolle des IMT veröffentlicht wurden.8 Die 24 Protokollbände (plus weitere 18 Dokumentenbände) wurden, wie im Impressum vermerkt ist, vom Sekretariat des Gerichtshofes mit Genehmigung der Alliierten Kontrollbehörde publiziert.9 Diese auch als „Blaue Bände“ bekannte Ausgabe enthält somit die offizielle Fassung der Reden, die von den Verantwortlichen des Gerichts für die Veröffentlichung als korrekt befunden und freigegeben wurde. Da unsere Neuausgabe nicht den Anspruch einer kritischen Textedition erheben will, stützen auch wir uns hier auf diese in der Wissenschaft allgemein benutzte Ausgabe.
Der offizielle Charakter der Texte bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass keine Fragen an diese Fassung zu stellen wären. Die von den Anklägern im Verfahren vorgetragenen Reden und die gedruckten Fassungen sind nicht in allen Details identisch, wie schon ein Vergleich zwischen den erhaltenen Film- und Audiomitschnitten der Reden und den protokollierten Niederschriften ergibt, und wie es auch schon Zeitzeugen festgehalten haben. Diese in aller Regel nicht gravierenden Unterschiede erklären sich, wenn man sich die Produktionsbedingungen der Protokolle vergegenwärtigt.
Die gedruckten Protokolle gehen – soweit es sich nicht einfach um die Reproduktion von vorgelesenen oder bei Gericht hinterlegten Dokumenten handelt – auf eine Kette von Versionen zurück. Im Fall der Reden standen den Protokollanten die Skripte der Redner zur Verfügung, die meist schon während des Vortrags auch den übrigen Prozessteilnehmern vorlagen. Abweichungen der mündlichen Rede vom Skript kamen natürlich auch in Nürnberg vor. Es liegt nahe, und ein bekanntes Beispiel von Jacksons Eröffnungsrede belegt es,10 dass dann eher die schriftlichen Fassungen in das Protokoll eingingen.
Komplexer war es beim gesprochenen Wort ohne Vorlage, also z.B. den Kreuzverhören, Verfahrensanträgen und Ähnlichem. Bekanntlich wurden sämtliche Verhandlungen des Prozesses simultan in die drei übrigen Verhandlungssprachen übersetzt, was eine unerhörte intellektuelle und logistische Leistung darstellte. Auf der Basis dieser Simultanübersetzungen erstellten Stenografen und Stenografinnen während der Sitzungen Mitschriften, die noch am gleichen Tag von den Dolmetschern auf sachliche Fehler und sprachliches „Gestammel“11 durchgesehen wurden, ohne dass Zeit für eine gründliche redaktionelle Bearbeitung war. Einwände gegen Übersetzungen wurden aber gelegentlich schon während der Verhandlung vorgebracht12 und führten zu Korrekturen. Sogar ganze Passagen konnten gestrichen werden.13
Nach Sitzungsende mussten dann die Dolmetscher und Dolmetscherinnen die Abschriften noch einmal durchsehen und korrigieren. So standen am gleichen Abend dann den Prozessbeteiligten die kompletten schriftlichen Protokolle des Tages in den vier Prozesssprachen zur Verfügung.14 Oder aber sie wurden am folgenden Tag noch einmal von einem weiteren Team mit den Tonaufnahmen verglichen, sodass eine schon weitestgehend bereinigte Version für das Protokoll entstand.15 Diese war auch die erste Quelle für die Gesamtausgabe der Protokolle, die allerdings für die Druckausgabe noch einmal von einem bis zu hundertköpfigen Stab von Übersetzerinnen und Übersetzern mit den Tonaufnahmen abgeglichen wurden.16 Die großen Reden wurden vermutlich separat übersetzt, mussten aber gleichwohl kurzfristig auch für die Medien zur Verfügung stehen. Eine vertiefte Beschäftigung mit den vielen, teils neuartigen juristischen Termini während des Prozesses war unter diesen Umständen unmöglich. Auch für Schlüsselbegriffe wie „Crimes against Humanity“ oder „Genocide“ wurden daher im Verfahren und auch noch bei der späteren Endredaktion