Herzkasper. Dirk Zöllner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dirk Zöllner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783359500933
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alle greifbaren Installationen neugestaltet. Ich spüre, dass mich nach dem Körper nun auch noch die Nerven verlassen wollen.

      Raus, an den Strand! Die vierhundert Meter sind mit der erwähnten Gehhilfe noch ganz gut zu bewältigen. Auf dem Holzweg, der vom Hotel Neptun bis ans Wasser führt, ramme ich mir einen großen Span senkrecht in die Ferse. Er lässt sich leider nicht vollständig entfernen. Es ist Sonntagabend, also keine Chance auf einen praktizierenden Arzt vor Ort – ich muss selbst Hand anlegen! Mit einem Fingernagelknipser entferne ich obere und tiefer liegende Hautschichten. So gelingt es mir nach einiger Zeit tatsächlich, den Splitter heraus zu hebeln. Es blutet stark, ich stöhne und ächze – die Kinder lachen.

      Ab ins Bett! Installationskünstler Ludwig in die Mitte, wir gucken jetzt ein Video! Ich entdecke in der DVD-Sammlung meiner Kollegin etwas mit Will Smith. Ja, der ist doch immer so schön lustig – das ist jetzt genau das Richtige, leichte Unterhaltung für die ganze Familie! »Das Streben nach Glück« heißt der Film. Wenn ihr mal nicht so ganz auf der Höhe seid, solltet Ihr Euch den nicht unbedingt angucken. Ich habe jedenfalls fast geweint.

      Ja, manchmal bin ich kurz davor. Ich denke: »Gleich passiert’s!«, aber dann ist es wieder weg. Ich kann nicht heulen! Da ist irgendwas verklemmt oder verstopft. Mein Herz sendet Signale, ich merke noch, wie die Lawine so schön ins Rollen kommt, und plötzlich … ich weiß nicht, grätscht mir der Kopf dazwischen … jedenfalls fließt es nicht. Seit etwa acht Jahren geht das schon so. Da hat sich richtig was angestaut – fünfzehn Kilo habe ich zugenommen! Wenn die Dämme mal brechen, werde ich wohl mindestens eine Woche durchheulen müssen! Mal im Ernst, wo sammeln sich eigentlich die ganzen Tränen? Im Kopf?

      Ich kann gelegentlich keinen klaren Gedanken mehr fassen, alles ist ineinander verknotet. Nachts löse ich Probleme, die es gar nicht gibt. Ständig ist da irgendwas am Ackern – ich finde keinen Schlaf, wenn ich nicht mindestens eine Flasche Rotwein intus habe. Also ziehe ich mir meistens mindestens eine rein!

      Mal janz ehrlich, Chef, ick mach mir langsam echt Sorgen um unsere jemeinsame Hülle. Live fast, love hard, die young? Dit is zu spät, Alter! Jetz ham wir unsern Film bis hierher jeschoben, nun wollen wir uns noch den Rest ankieken, okay?! Ab jetz wird mal kurz der Schongang einjelegt: Love & Peace! Ab und zu mal ’n liebevoller Gedanke im Rückspiegel, aber gloob mir: Dit große Jefühl liegt noch vor uns!

      Zack! Zack! Ausgetrunken!

      Alle Typen, die ich in den Siebzigern cool fand, haben geraucht, hatten lange Haare und eine Leidenschaft für echte Musik. Ich wollte dazugehören – und ich habe dazugehört. So richtig. Fast fünfundvierzig Jahre lang habe ich die Hippienummer konsequent durchgezogen. In letzter Zeit gelegentlich in der Lindenbergversion, also mit Hut.

      Doch das ist nun vorbei. Kein konkreter Grund, ich habe nur auf mein Herz gehört. Keine einschneidende Veränderung im privaten oder beruflichen Leben. Keine neue Liebe und auch keine Trennung, nur eben die von meinen lebenslänglich länglich gehaltenen Haaren! Wie ferngesteuert betrat ich unlängst den neuen trendigen Barbershop von Alt-Köpenick und ließ mir dort völlig schmerzfrei eine Herrenfrisur von der Stange verpassen. Johanna findet es nicht ganz so gut, aber ansonsten stößt meine neue Seriosität mehrheitlich auf Wohlwollen.

      Die äußerliche Entwuselung macht mich anscheinend etwas leichter verdaulich. Ich bin ja innerlich genug verwuselt, meistens einfach zu sehr an. Hochtourig. Zu doll. Zu laut. Die Maßlosigkeit ist meine größte Sünde. Immerhin, meinen Kindern gefällt das! In die bin ich allerdings so maßlos verliebt, dass es mir in ihrer Gegenwart gelingt, die nicht kindgerechten Süchte in den Griff zu bekommen. Ich rauche und trinke dann sehr dosiert.

      Das hemmungslose Rauchen und Trinken hat bei mir unmittelbar etwas mit Musik zu tun. Ich brauche nur an einen der drei Andrés zu denken, da überkommt mich auch schon die Lust auf Rotwein und Zigaretten. Mit dem ewigen André Gensicke habe ich in der über dreißig Jahre andauernden Tour einige Hektoliter verklappt und ganze Tabakplantagen durch die Lungen gezogen. Rotwein ist und bleibt überwiegend inspirierend, aber diese Qualmerei erscheint mir nun auf einmal genauso sinnlos wie die langen Haare.

      Und so habe ich jetzt auch gleich noch meine Raucherkarriere beendet. Eigentlich müsste ich aus gesundheitlichen Gründen sofort wieder anfangen, denn ich habe plötzlich permanenten Reizhusten und bin seit gestern sogar heiser. Aber ich ignoriere die Angstreaktionen des konservativen Körpers und genieße die neuen kleinen Freuden.

      Da ist zum Beispiel der aufkommende Appetit. Das gute Essen meiner Freundin schmeckt besser denn je, der Geschmackssinn kehrt zurück. Und ich freue mich auf die Oktoberferien, da fahren wir mit den Kindern ans Meer. Schon lange vermisse ich den Geruch von Salz und Seetang.

      Rauchfrei und mit kurzen Haaren macht das Musikmachen allerdings auch weniger Spaß. Ich muss aber weiter auf Tour gehen, denn ich habe ja kein Geld gesammelt. Platten werde ich auch nicht mehr machen. Das ist nämlich derart teuer, da müsste ich noch mehr spielen. Wenn ich in Zukunft wieder etwas schreibe, dann einen richtigen Popsong oder einen Schlager. Die coolen Typen sind tot. Es gibt nur noch rudimentäres Interesse an Kunst. Sei endlich still, du dummes Herz!

      Hallo? Ick steh gleich wirklich still, und dann biste janz schnell ’n richtig cooler Typ! Du verstehst hoffentlich, watt ick meine: ICECOOL, Alter! Isses vielleicht mal an der Zeit, die Früchte der Arbeit zu genießen und sich damit zu begnügen, die alten Lieder zu jenießen? Die neuen werden nämlich von andern geschrieben. Von deinen Kindern!

      Zirkus Zöllner

      Im Januar 1985 hatte ich meinen ersten bezahlten Auftritt. Im Friedrichfelder Eck, einem Berliner Neubauclub, in der Nähe des Tierparks Berlin. Über ein Jahr haben wir im Vorfeld auf diesen Tag hingearbeitet. Meine Band hieß Chicorée, und ich war mit zweiundzwanzig Jahren der Älteste. Achim, unser Trommler, ging noch in die Schule. Bei den Proben, die in seinem Kinderzimmer stattfanden, war immer der Großteil seiner Klasse dabei. So war unser erster Auftritt auch gleich ein großer Erfolg, denn wir hatten schon Fans.

      Das Glück war uns weiterhin hold, denn just an diesem Tage war ein kleiner, pfiffiger Typ im Publikum, der uns fortan auf jedes Podest stellte, das er finden konnte. Manchmal fühlte sich das gar nicht so schön an, aber es war tausendmal besser, als jeden Tag in dieses gruselige Betonwerk zu gehen. Ich hatte in Ermangelung von Ideen und Möglichkeiten eine Ausbildung zum Betonwerker absolviert, die einzige Lehrstelle genommen, die derzeit noch im Angebot war. Planwirtschaft.

      Jetzt auf dem freien Markt kann man natürlich alles lernen oder studieren, so dass es ein verheerendes Überangebot an ausgebildeten Sängern, Tänzern und Schauspielern gibt. Ich habe das meinen Kindern immer vor Augen gehalten, aber Rubini hat die väterlichen Bedenken ignoriert und es tatsächlich geschafft, ebenfalls von der Kunst zu überleben. Gerade hatte sie eine Hauptrolle, war Mogli im Kindermusical »Das Dschungelbuch«. Egon tanzt schon seit Jahren in den Kinder- und Jugendrevuen des Friedrichstadtpalastes, derzeit im »Labyrinth der Bücher«. Auffällig gut. Er will mit allen Sinnen auf die Bühne, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihm gelingen wird. Ich glaube, er hat nie etwas anderes im Sinn gehabt. Für ihn gibt es keinen Plan B.

      Bei Mimi ist es anders, sie ist ganz Kind und allseitig interessiert. Vor allem an ihren großen Geschwistern, aber auch am kleinen Ludwig. Sie ist in einem Segelverein, in einem Karateclub, spielt Hockey, liest und malt – lediglich am Dienstag besucht sie, seit drei Jahren, den Klavierunterricht. Sie macht das gern, ist aber nicht besonders ehrgeizig.

      Zum Jahresende nahm sie an einem Schulkonzert teil. Ich war auch unter den Zuschauern, habe fast drei Stunden lang gelitten. Vierzig Programmpunkte – gruselig! Zwei oder drei Ausnahmen bestätigten die Regel. Die Mütter und Großeltern überschütteten ihre Wunderkinder mit stehenden Ovationen, während ich mich mit anderen Vätern zur Energieregenerierung immer wieder vor den Toren der Schule traf – und bei der Gelegenheit leider auch gleich wieder mit dem Rauchen anfing.

      Wie sah mein Engelchen dann aber süß aus! Mit ihrem weißem Plüschpullover, dem Paillettenröckchen und dem Weihnachtsstern im Haar. Am Ende hat sie sich entzückend vortrefflich verbeugt!

      Es ist die Aufgabe