Sinn erleben
Eine bedeutende Quelle für Zuversicht ist der Sinn. Was ist damit gemeint? Es gibt unzählige Definitionen für Sinn. Sie stehen immer im Zusammenhang mit dem Warum des Lebens. Es geht um die Frage, woran mein Herz hängt, was mein Herz wärmt und mit Freude füllt. Das berührt auch die Frage, wofür ich leben will und leben kann. Es ist die Frage nach dem Wozu, nach dem Motiv meines Lebens. Vaclav Havel (1936–2011), tschechischer Präsident und Menschenrechtler, formulierte den berühmten Satz: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Diese Kraft der Zuversicht und der Überzeugung einer sinn-vollen Tat kommt in der Geschichte „Der Mann, der einen Wald pflanzte“, überzeugend zum Ausdruck. Vom Romanautor Jean Giono erstmals 1954 veröffentlicht, hat sie bis heute zahllose Leser gefunden.
Die Geschichte beginnt mit einer Wanderung eines jungen Ich-Erzählers Anfang des 20. Jahrhunderts durch das karge Bergland der Provence, „eine nackte und monotone Landschaft auf 1200 bis 1300 Metern Höhe, nur von wildem Lavendel bewachsen“. Inmitten der Einöde trifft er auf einen schweigsamen Mann, von dem eine seltsame Ruhe und Gelassenheit ausgehen: Es ist der Schafhirte Elzéard Bouffier, der sich für ein Leben in der Einsamkeit entschieden hat, nachdem er seine Frau und seinen Sohn verloren hat. Fernab vom Weltgetriebe hütet dieser Hirte aber nicht nur seine Tiere, sondern verfolgt auch eine besondere Mission: Bouffier will die karge Landschaft wieder bewalden und pflanzt daher auf eigene Faust neue Eichen. Tag um Tag bohrt er mit einem Eisenstab Löcher in den trockenen Boden und versenkt darin sorgfältig sortierte Eicheln, unbeeindruckt von der schieren Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens und ohne sich darum zu kümmern, wem das Land gehörte oder was andere darüber denken mochten. In der folgenden Zeit wird der Erzähler in den Strudel des Ersten Weltkriegs gerissen und kehrt erst fünf Jahre später in diese Gegend zurück. Zu seinem Erstaunen trifft er erneut auf den Hirten, der – unbehelligt vom Krieg – stetig weitergepflanzt und mittlerweile einen kleinen Wald geschaffen hat. Im Laufe der Jahre besucht der Erzähler seinen Helden immer wieder und wird Zeuge eines kleinen Wunders: Die von Bouffier gepflanzten Eichen-, Buchen- und Birkenhaine dehnen sich aus und die gesamte Landschaft beginnt sich zu verändern. Es fließt wieder Wasser in den Bachbetten, das Klima wird erträglicher, und die ehemals verlassenen Dörfer werden neu besiedelt. Am Ende, nach über vier Jahrzehnten, hat sich die zuvor karge, verlassene Gegend in ein wahres Idyll verwandelt. „Zählt man die Eingewanderten zu der alten, kaum wiederzuerkennenden Bevölkerung dazu, verdanken mehr als zehntausend Personen ihr Glück Elzéard Bouffier“, berichtet der Erzähler und schildert bewundernd die „dauerhafte Seelengröße und selbstlose Großzügigkeit“ dieses Schafhirten, der sich allein „auf seine physischen und moralischen Kräfte verlassend“ aus einer Wüste ein „gelobtes Land“ geschaffen habe.5
Diese Episode macht bewusst: Sinn kann nicht bloß theoretisch oder technisch konstruiert werden. Sinn muss gefunden und erlebt werden. Ein anderes Beispiel: Wenn ich vor dem gotischen Dom in Feldkirch stehe, weiß ich vielleicht um die bunten Glasfenster des Künstlers Martin Häusle, die den Kirchenraum wunderschön erhellen und die zu den verschiedenen Tageszeiten immer wieder neue Geschichten erzählen. Persönlich erleben und tief erfahren werde ich dieses Wunder jedoch nur, wenn ich in den Dom hineingehe und das bezaubernde Farbenspiel auf mich wirken lasse.
Das ist auch ein Bild für das Leben. Den konkreten Sinn meines Lebens kann ich mir nicht nur im Kopf ausdenken. Ich erfahre ihn, wenn ich – um im Bild zu bleiben – in den „Kirchenraum“ meines Lebens hineingehe. Ich werde vielleicht hineingehen, weil ich weiß und vertraue oder wenigstens hoffe, dass es den Sinn überhaupt gibt. Den Sinn erfahren, mich davon stärken lassen und daraus Zuversicht schöpfen kann ich jedoch nur, wenn ich diesen Raum betrete und mich darin bewege. Das heißt aber auch, dass jede und jeder von uns den Sinn nur für sich persönlich finden kann. Es gibt kein für alle Menschen gültiges Warum und Wozu des Lebens. Wie aber finde ich den Sinn meines Lebens? Wie finde ich zu diesen Quellen der Zuversicht? Mehrere „Hauptstraßen“ führen dorthin.
Schöpferische Werte
Eine Möglichkeit, Sinn zu erfahren, führt über den Weg der schöpferischen Werte. Hermann Hesse formuliert das treffend: „Das Leben stellt jedem eine andere, einmalige Aufgabe, und so gibt es auch nicht eine angeborene oder vorherbestimmte Untauglichkeit zum Leben, sondern es kann der Schwächste und Ärmste an seiner Stelle ein würdiges und echtes Leben führen, einfach dadurch, dass er seinen nicht selbstgewählten Platz im Leben und seine besondere Aufgabe annimmt und zu verwirklichen sucht.“6 Das heißt, dass jeder Mensch sinnvoll leben und und jede Situation sinnvoll gelebt werden kann.
In den Tagen der Corona-Krise haben wir das auch erlebt. Es gab enge Grenzen, die Freiräume unseres Lebens waren sehr eingeschränkt. Ein junger Mann, der schon längere Zeit im Homeoffice war und eine neue Aufgabe für seine Freizeit suchte, erzählte mir von seinem Besuch in einem Baumarkt, der nach den Ausgangsbeschränkungen wieder geöffnet wurde. Es war für ihn wie das Umhergehen in einer Welt, die ihm Freude macht. Etwas, das er sich vorher nie hätte vorstellen können. Warum? Auf einmal hat er viele Möglichkeiten entdeckt, sich sinnvoll und schöpferisch zu betätigen, selbst wenn es nur der kleine Garten war, den er auf seinem Balkon zusammen mit seiner Frau angelegt hat – das Gemüse, die Blumen, die Aussicht auf eine Ernte im Sommer.
Hätte ich diesem vielseitig engagierten jungen Menschen noch vor einem Jahr vorgeschlagen, „lege doch auf dem Balkon einen Garten für dich an“, er hätte mich wahrscheinlich nur belächelt. Die veränderte Lebenssituation hat ihm eine ganz neue Sinnmöglichkeit aufgetan. Sie berührt die tiefsten Schichten des Menschseins, nämlich des Säens, des Schaffens, eben der schöpferischen Werte. Das bestätigt mir auch ein erfolgreicher Politiker. Seine Augen leuchten, wenn er von seinem Weinberg erzählt. Wer einen Garten anlegt, beteiligt sich am großen Schöpfungswerk Gottes. Mit einem Garten schafft man sich einen Ort des Wohlfühlens und auch der Sehnsucht. Gott hat den Menschen nicht in eine fremde Welt hineingesetzt, sondern in einen geschützten Raum. Wie wir auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift lesen, war das erste Zuhause des Menschen ein Garten, also ein Ort, wo man Schutz und Geborgenheit genießen konnte, wo die Beziehung zur Natur harmonisch war und der Mensch in unmittelbarer Nähe zu Gott lebte. Jemand, der den Garten liebt, spürt vielleicht bewusst oder unbewusst diese Sehnsucht nach einer harmonischen Einheit mit Gott und der Umwelt.
Die Heilige Schrift kennt einen anderen Aspekt des Gartens: Er ist auch der Ort der Liebe und des Lebens. Das Hohelied besingt den Garten als den Ort, an dem man das Leben feiert, wo man einfach Freude daran hat, dass es Leben auf dieser Erde gibt. Dieser Garten ist exotisch, wohlduftend, da wachsen seltene und kostbare Pflanzen, Kräuter und Früchte, die zur Erhaltung des Lebens und zur Heilung von Krankheiten unentbehrlich sind: „Ein Granatapfelhain mit köstlichen Früchten, Hennadolden samt Nardenblüten, Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam“ (Hld 4,13f) – all das kann man dort finden.
Die Bibel nennt noch eine dritte Dimension des Gartens. Vor seinem Leiden ging Jesus in den Garten Getsemani auf den Ölberg, um dort zu beten und Kraft zu schöpfen. Der Garten ist auch ein Ort der Stille und des Gebetes. Die Seele in Bedrängnis findet dort ihre Ruhe, verwirrte Gedanken werden klar, Fragen bekommen eine Antwort. Die heilende Kraft des Gartens wird vielfach genützt. Aufenthalte in Klöstern wie Exerzitien sind oft verbunden mit Gartenarbeit. Die Therapie bei Erschöpfung und Burnout integriert auch oft Aktivitäten im Garten oder den Gang in die Natur.
Der Garten ist ein wunderbares Bild für die Fülle des Lebens. Und ich glaube: Wer sich um einen Garten sorgt, liebt das Leben. Jede auch noch so kleine Pflanze braucht Zuwendung, Aufmerksamkeit, Pflege – und man könnte sagen: Liebe. Im Garten kann man viel für das eigene Leben lernen: das Warten auf das Wunder, bis der Keimling kommt; zartes und feinfühliges Umgehen mit den Setzlingen; Geduld, bis die Pflanze blüht und dann Früchte trägt; Pflege und Schutz,