Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Arthur Rosenberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arthur Rosenberg
Издательство: Bookwire
Серия: eva digital
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935061
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den die Sozialdemokratie führte, bei den christlichen Arbeitern volle Zustimmung fand7. Das Zentrum als Partei war durch das preußische Wahlsystem nicht geschädigt. Mit Hilf e seiner Wähler aus dem ländlichen und städtischen Mittelstand konnte das Zentrum prozentual im preußischen Landtag ebenso stark auftreten wie im Reichstag. Aber die Entrechtung des Arbeiterwählers in der dritten Abteilung empfand der christliche Arbeiter ebenso stark wie der Sozialdemokrat.

      Der Oppositionsgeist der christlichen Arbeiter fand seinen Ausdruck in einem linken Flügel der Zentrumspartei, dessen jüngere Führer die Taktik der altkonservativen Parteispitze nicht billigten. Der aktivste und einflußreichste Mann im linken Zentrum wurde Matthias Erzberger. Er hat zwar in entscheidenden Fragen falsch geurteilt und wunderliche Schwankungen in seiner politischen Haltung durchgemacht. Aber Erzberger hatte dabei eine beispiellose Gabe, die Aktualität einer Situation zu empfinden und dann aus der Situation herauszuholen, was nur irgendwie möglich war. Es hätte Erzbergers Art nicht entsprochen, einen konsequenten Kampf auf lange Sicht gegen das preußische System zu führen. Im Gegenteil, er hat manchmal mit dem alten System und gerade mit seinen militärischen leitenden Persönlichkeiten harmonisch zusammengearbeitet. Aber kritische Situationen rissen ihn so fort, daß er dann zu den furchtbarsten Angriffen gegen die herrschende Ordnung befähigt war. Seine ungewöhnliche Aktivität sichert ihm den führenden Platz unter den Männern der deutschen bürgerlichen Revolution. Von dem linken Zentrumsflügel gilt dasselbe wie von der linksbürgerlichen Opposition: An sich bedeutungslos, wurde er ein lebensgefährlicher Feind des alten Systems, sobald er mit der Sozialdemokratie zusammenging.

      Die Sozialdemokratie ist unter Wilhelm II. von eineinhalb zu viereinviertel Millionen Wählerstimmen gestiegen8. Zur Zeit des Kriegsausbruchs folgte ein Drittel des deutschen Volkes den Parolen des sozialdemokratischen Parteivorstandes. Seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes hat Wilhelm II. es nicht mehr gewagt, die Sozialdemokratie gewaltsam zu unterdrücken. Zwar haben die Gerichte immer wieder sozialdemokratische Führer und Arbeiter wegen Majestätsbeleidigung, Landfriedensbruchs usw. ins Gefängnis geschickt. Aber im ganzen vollzog sich der Ausbau der sozialdemokratischen Organisation ohne Störung durch die Staatsgewalt. Die sozialdemokratischen Vereine und Zeitungen, dazu das mächtige System der freien Gewerkschaften, umspannten ganz Deutschland. So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser. Auf der anderen Seite hielt sich aber die Sozialdemokratie im Rahmen der Gesetze. Seitdem sie durch Aufhebung des Ausnahmegesetzes die politische Bewegungsfreiheit erlangt hatte, wollte sie erst recht nur durch legale Propaganda ihre Anhängerschaft vermehren.

      Das war durchaus kein Verzicht auf Revolution und Machtübernahme. Wenn das deutsche Kaisertum und die preußische Regierung sich nicht mehr stark genug fühlten, um ihren Todfeind niederzuwerfen, wäre es eine Dummheit gewesen, wenn die Sozialdemokraten vorzeitig den Entscheidungskampf heraufbeschworen und damit ein neues deutsches Seitenstück zur Kommune-Niederlage geschaffen hätten. Friedrich Engels, der einzige Staatsmann von Format, den die Sozialdemokratie in den neunziger Jahren besaß, hat die Situation in vollkommener Klarheit erfaßt9. Ein Straßenkampf der Arbeiter gegen die intakte preußische Armee wäre bei der modernen Waffentechnik hoffnungslos. Aber wenn die Sozialdemokratie in dem Tempo der Wahlen von 1887, 1890, 1893 weiter wuchs, drang sie in gleichem Umfang in die Armee ein. Auch bei friedlicher Weiterentwicklung der Partei mußte der Moment kommen, in dem es so viele sozialdemokratische Soldaten gab, daß die Truppe nicht mehr gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte. Kam es aber zum Krieg, dann würde Deutschland in derselben Lage sein wie Frankreich 1793. Dann würden auf den Trümmern des alten Systems die Arbeiter die Macht übernehmen, und dann würde das Arbeiter-Deutschland genauso siegreich den Zarismus und seine Verbündeten zurückwerfen, wie damals Frankreich das verbündete monarchische Europa schlug.

      Friedrich Engels kommt an politischem Realismus und rücksichtslosem Machtwillen Bismarck gleich. Aber so wenig wie Wilhelm II. und seine Ratgeber im Geiste Bismarcks regierten, ebensowenig waren die Gedanken von Engels Gemeingut der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Deutschlands. Die Arbeiter kamen zur Sozialdemokratie in erster Linie, um ihre gedrückte wirtschaftliche Lage zu bessern. In der Tat gelang es unter Wilhelm II. dem zähen Kampf der Gewerkschaften, die Lebenshaltung des deutschen Proletariats zu heben. Was die Regierung an sozialpolitischen Zugeständnissen machte, wurde auch nur durch den Druck der Sozialdemokratie abgerungen. Die Arbeiter verstanden ferner den Zusammenhang zwischen der Macht der Unternehmer und der militärisch-politischen Staatsgewalt. Sie kämpften gegen den preußischen »Militarismus« und gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. Aber ein ernster politischer Machtwille war doch in den Massen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nicht vorhanden. Das Proletariat ist eben geistig von dem Bürgertum seines Landes viel abhängiger, als man es manchmal zugeben möchte: Der russische revolutionäre Sozialismus des 20. Jahrhunderts hätte sich ohne die hundertjährige revolutionäre Tradition der bürgerlichen russischen Intelligenz nie entfalten können. Wenn die englische Arbeiterschaft heute imstande ist, über alle politischen Fragen so klar und präzis zu urteilen, so dankt sie das dem politischen Vorbild des englischen Bürgertums seit Jahrhunderten.

      Eine ähnliche Tradition des deutschen Bürgertums fehlte. Die Ansätze dazu, die in den Jahren 1848 bis 1871 sich entwickelt hatten, gingen in der Bismarckzeit wieder zugrunde. Es ist kein Zufall, daß die bahnbrechenden Geister der deutschen Sozialdemokratie, Marx und Engels, Lassalle und Wilhelm Liebknecht, ohne die Bewegung von 1848 gar nicht denkbar wären. Im deutschen Kaiserreich lernte der Arbeiter in der Volksschule, im Heer und in der Fabrik zwar Schreiben und Lesen, Technik, Disziplin und Organisation. Aber er gewann nirgends ein politisches Weltbild. Er hatte keine Vorstellung davon, wie sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Revolution vollziehen würde, die er ersehnte, und auf welchem Wege man aus der traurigen Gegenwart in die bessere Zukunft kommen könne. Die Bildungsarbeit der Sozialdemokratischen Partei, so Achtbares sie im einzelnen leistete, konnte diese Lücke nicht ausfüllen.

      So erfüllte die sozialdemokratischen Massen ein etwas gehobener Zunftgeist: Anhänglichkeit an die Organisation mit starker Opferwilligkeit für sie, der Wille, die eigene wirtschaftliche Lage zu heben, unbedingte Abneigung gegen das herrschende preußische System. Diese Grundstimmung der Massen beherrschte auch die Funktionäre und den Parteivorstand. Man kritisierte das Bestehende und wartete ab; hatte aber keinen politischen Plan für die nächste Zukunft, abgesehen von der Vorbereitung der gerade fälligen Reichstagswahl.

      Die offizielle passive Politik des Parteivorstandes wurde von zwei Seiten angegriffen, von den Linksradikalen und von den Revisionisten. Die linksradikale Gruppe um Rosa Luxemburg10 und Franz Mehring erkannte, daß Europa ungeheuren Krisen entgegenging. Sie sah den Weltkrieg kommen und im Zusammenhang mit ihm die Revolutionen. Sie hielt die russische Revolution von 1905 für die Einleitung einer neuen krisenhaften Periode der Geschichte. In dieser Lage könne sich die deutsche Arbeiterschaft nicht auf die Wahlkampagnen beschränken, sondern sie müsse sich auf revolutionäre Kämpfe vorbereiten. Sie müsse sich an die Waffe des Generalstreiks gewöhnen, mit der das russische Proletariat gegen den Zarismus gekämpft habe.

      Eine andere Schule von Theoretikern, die Revisionisten um Eduard Bernstein, lehnte gleichfalls das passive Abwarten ab: Es sei eine abenteuerliche Idee, auf den baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus zu spekulieren. Die Arbeiterschaft habe auch im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft bedeutende positive Aufgaben. Sie müsse noch stärker und planmäßiger als bisher für wirtschaftliche und politische Reformen kämpfen. Die Sozialdemokratie würde um so mehr erreichen, wenn sie Verbündete innerhalb des Bürgertums gewinnen könne. Im Bunde mit dem linksstehenden oppositionellen Bürgertum könne man die Mehrheit in den deutschen Parlamenten erreichen und das herrschende preußische Militärsystem erschüttern. Die Erkämpfung der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie in Deutschland wäre bereits ein großer Erfolg der Arbeiter.

      Wenn man heute rückblickend die Kämpfe innerhalb der Sozialdemokratie vor dem Krieg überprüft, so muß man zugeben, daß sowohl die Radikalen wie die Revisionisten in wichtigen Punkten die Entwicklung richtig beurteilt haben. Dagegen schneidet das offizielle Zentrum des Parteivorstandes am schlechtesten ab. Es hat nichts erkannt und nichts vorhergesehen. Es ließ sich vom Kriegsausbruch überraschen und auch während des Krieges von den Ereignissen treiben.