Markus war danach zu einem Auslandseinsatz nach Russland geschickt worden und noch immer nicht zurück. Seine letzte Kurznachricht hatte sie vor über einer Woche erhalten. Es waren nur zwei Wörter gewesen: Lebe noch. ;-)
Obwohl das nicht viel war, hatte sie sich doch sehr darüber gefreut, denn es zeigte ihr, dass ihm wirklich etwas an ihrer Freundschaft lag. Zuvor hatte er sich nach der Sache zu Weihnachten ganze drei Monate nicht bei ihr gemeldet. Dafür hatte sie ihm ordentlich den Kopf gewaschen, denn wenn er schon behauptete, sie seien Freunde, sollte er sich auch gefälligst so verhalten.
Er war beileibe kein einfacher Mensch – verschlossen, einzelgängerisch, charmant, wenn er etwas erreichen wollte, aber auch stur und zuweilen arrogant. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich überhaupt mit ihm abgab. Doch inzwischen hatte sie hin und wieder einen Blick auf den Menschen werfen dürfen, der sich hinter einer Mauer aus innerer Abwehr verschanzt hatte, und war fest davon überzeugt, dass er es wert war, ihn näher kennenzulernen.
Dass er außerdem geradezu unverschämt gut aussah – was er leider nur allzu genau wusste – und sie ihren Herzschlag und das Flattern in ihrer Magengrube in seiner Gegenwart nur mit Mühe unter Kontrolle halten konnte, darüber dachte sie schon seit einer Weile grundsätzlich nicht mehr nach. Sie versuchte, ihre Reaktion auf ihn zu ignorieren, denn er war alles andere als ihr Typ, genau wie umgekehrt. Sich auf ihn einzulassen, falls er das überhaupt wollen würde, wäre nicht nur unvernünftig, sondern ganz sicher auch gefährlich, vor allem für ihr Herz, das in der Vergangenheit schon genügend Tiefschläge erlitten hatte. Einen weiteren wollte sie ganz sicher nicht erleben.
Freunde waren sie jedoch unbestreitbar geworden, das hatte schließlich sogar er zugegeben, und er bemühte sich auch, diese Freundschaft zu pflegen. Zumindest, soweit es ihm möglich war. Sie sah ein, dass er während eines brandgefährlichen Einsatzes nicht ständig Kontakt zu ihr halten konnte. Umso mehr freute sie sich über jedes kleine Lebenszeichen von ihm. Wie diese Kurznachricht. Sie hatte sie nicht gelöscht.
Während er fort war, kümmerte sie sich um die wenigen Grünpflanzen in seiner Wohnung und sammelte seine Post. Er hatte sie nach seiner Abreise telefonisch darum gebeten und ihr den Schlüssel zu seiner Wohnung per Kurier zukommen lassen. Das war ein Vertrauensbeweis, mit dem sie gar nicht gerechnet hatte, der sie glücklich und auch ein wenig stolz machte. Markus hatte nur wenige Freunde und noch weniger Menschen, denen er so sehr vertraute. Dass sie nun zu diesem kleinen Kreis gehörte, war schon etwas Besonderes.
Der Nachrichtenmoderator erzählte inzwischen etwas von einer zerstückelten Leiche, deren Kopf und Körperteile bis auf den Rumpf und ein Bein noch nicht aufgetaucht waren. Kopfschüttelnd ließ Janna ihren Blick über die wenigen LKW schweifen, die hier auf dem Rastplatz parkten. Neben einem hatte ein Fahrer trotz der eher kühlen zwölf Grad einen kleinen Grill aufgebaut, auf dem irgendetwas brutzelte, vermutlich Würstchen. Der Fahrer selbst war in ausgebeulte Jeans, ein ehemals weißes, mittlerweile eher graues Unterhemd und eine zerbeulte braune Strickjacke gekleidet und kratzte sich immer wieder seine umfangreiche Wampe.
Janna schüttelte sich, denn der Mann bot nicht gerade einen appetitlichen Anblick. Kurz erlaubte sie sich, an seiner Stelle das Bild von Markus heraufzubeschwören. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie er ihr einmal, als er den Personenschutz für sie hatte übernehmen und bei ihr übernachten müssen, früh morgens nur in Jeans und mit nacktem Oberkörper über den Weg gelaufen war. Auch später hatte sie bei dem einen oder anderen Einsatz Blicke auf seinen wohlgeformten und muskulösen Körper werfen dürfen. Der Unterschied zu dem Trucker war so krass, dass sie kichern musste.
Sie knabberte an einem Stück Möhre und überlegte gerade, ob es wohl erlaubt war, ein wenig draußen auf und ab zu gehen. Denn auch wenn die Sonne sich heute noch nicht durch die Wolken gekämpft hatte, wäre sie gern an der frischen Luft gewesen. Wenn sie nicht hier auf den Kurier hätte warten müssen, wäre sie heute in ihren Garten gegangen und hätte sich damit beschäftigt, die Beete für die bald anstehende Bepflanzung mit Gemüse und Salat vorzubereiten.
Ihr Blick wurde von einem dunkelblauen Lieferwagen angezogen, der in diesem Augenblick auf den Rastplatz geschossen kam und mit Schwung in eine der Parkbuchten nicht weit von ihr einscherte. Auf dem Wagen stand Elektrotechnik Pietrowski und darunter eine Adresse aus Chemnitz. Auch das Kennzeichen verriet, dass der Wagen aus Ostdeutschland kam.
Das musste er sein. Beinahe hätte Janna sich verschluckt. Hastig legte sie die angeknabberte Möhre zurück in die Tupperdose und schloss den Deckel, öffnete ihn jedoch gleich wieder und entnahm ihr wahllos einen gelben Paprikastreifen. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Ohne etwas zu schmecken, aß sie das Gemüse und tat, als suche sie sich mit besonderer Sorgfalt das nächste in der Dose aus. Dabei beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie der Fahrer des Lieferwagens, ein schmaler blonder Mann mit Brille und Vollbart, eine braune Papiertüte von Burger King hinüber zur Baumgrenze trug, neben einem Busch auf dem Boden abstellte, zur Seite trat und sich an einem Baumstamm erleichterte. Danach kehrte er langsam zu seinem Wagen zurück, ließ die Tüte aber, wo sie war.
Janna erschrak, als er sie direkt ansah und mit dem Kinn in Richtung Autobahn deutete. Sie blickte dorthin, dann wieder zu ihm. Er schüttelte leicht den Kopf und formte mit den Lippen ein paar Worte, die sie zunächst nicht verstand. Erst als er sie wiederholte, meinte sie Beeilung und Gefahr zu erkennen. Er warf noch einen kurzen Blick zurück zur Tüte, dann machte er eine abwehrende Geste mit der Hand, stieg in den Lieferwagen und fuhr mit Vollgas zurück auf die Autobahn.
Im selben Moment kam ein Motorrad auf den Rastplatz gebraust, hielt aber ganz am anderen Ende. Ihm folgte ein grüner VW Beetle, in dem jedoch nur ein älteres Paar saß, das sich heftig gestikulierend unterhielt. Sie parkten direkt neben Jannas Golf, stiegen aus und setzten ihre hitzige Diskussion draußen fort, während der Mann einen Korb mit Proviant vom Rücksitz nahm und vor der Motorhaube auf dem Boden abstellte. Die Frau begann sofort, darin zu wühlen, und reichte ihm ein Butterbrot, ohne auch nur einen Moment mit ihrer Tirade aufzuhören.
Noch zwei Autos näherten sich nun und parkten in unterschiedlichem Abstand zu Janna. Das eine war eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben, das andere ein grauer Van, beide mit ausländischen Kennzeichen. Auch ein weiterer LKW hatte eine Parkbucht angesteuert.
Verunsichert sah Janna sich nach den Autos um. Was hatte der Mann im Lieferwagen gemeint? War er verfolgt worden? Und wenn ja, wer waren die Verfolger? Konnten sie ihr gefährlich werden? Sollte sie Herrn Bernstein anrufen?
Ein weiteres Auto steuerte den Rastplatz an. Wieder eine schwarze Limousine, diesmal aber, wie sie durch leichtes Verrenken ihres Halses erkennen konnte, mit Kölner Kennzeichen.
Keiner der Fahrer stieg aus, was Janna noch mehr beunruhigte. Schon wollte sie ihr Handy hervorholen, überlegte es sich dann aber doch anders und atmete tief durch. Herr Bernstein wollte, dass sie die Papiertüte ins Institut brachte, also würde sie das tun. Sie stieg entschlossen aus und tat, als strecke und recke sie sich ausgiebig. Dann nahm sie ihre Umhängetasche, hängte sie sich lässig über die Schulter und ging ein wenig auf und ab, streckte sich erneut und trat dann wie zufällig neben den Busch. Dort öffnete sie ihre Tasche, tat, als suchte sie etwas darin, stellte sie schließlich auf dem Boden ab und wühlte weiter. Sie war nun teilweise von dem Busch und teilweise von einem Mülleimer verdeckt. Rasch schnappte sie sich die Papiertüte und stopfte sie in die Tasche, zog ihr Handy hervor und gab vor, eine Nummer zu wählen.
Ohne besondere Eile, jedoch mit wild klopfendem Herzen schlenderte sie zum Golf zurück und sprach irgendwelche zusammenhanglosen Sätze in ihr Smartphone, die sich, wie sie hoffte, anhörten, als spräche sie mit ihrer Mutter. Sie setzte sich zurück ins Auto, warf das Handy auf den Beifahrersitz und fuhr zügig los.
Als sie etwa einen Kilometer zurückgelegt hatte, atmete sie auf. Es war alles gutgegangen. Keine Gefahr. Sie würde am besten bei der nächsten Abfahrt in die entgegengesetzte Richtung zurückfahren, um so schnell wie möglich Bonn