Für Lefebvre beruht der Vorzug der städtischen Zentralität vor allem auf der »Gleichzeitigkeit«: Aus dem synchronen Zusammentreffen unterschiedlichster Elemente der Gesellschaft um einen Dichtepunkt kann etwas Unerwartetes, Neues und Produktives entstehen: »Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzenten, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen. Und dennoch, sie erschafft alles. Nichts existiert ohne Austausch, ohne Annäherung, ohne Nähe, ohne Beziehungsgefüge also. Sie schafft eine, die urbane Situation, in der unterschiedliche Dinge zueinanderfinden und nicht länger getrennt existieren, und zwar vermöge ihrer Unterschiedlichkeit.« (Ebd., S. 127) Mit »Zentralität « ist nicht nur der Raum der Kernstadt gemeint. Die Dynamik des Urbanisierungsprozesses lebt vielmehr vom Gegensatz zwischen Zentralisierung und Zerstreuung: »Jeder Punkt kann zum Brennpunkt werden, zum privilegierten Ort, an dem alles konvergiert. So dass jeder städtische Raum in sich dieses Möglich-Unmögliche trägt, seine eigene Negation. Jeder städtische Raum war somit, ist und wird konzentrisch und poly-(multi-)zentrisch sein.« (Ebd., S. 46)
Zentrum und Peripherie sind somit als relationales Modell räumlicher Beziehungen zu verstehen, die sich in nicht eindeutig voraussagbaren Formen manifestieren (Cluster, Knoten, Patchwork). Die bislang monozentrisch geformten Agglomerationen transformieren sich zu polyzentrischen Gebilden, die aus einem Geflecht unterschiedlicher Standorte bestehen (Ronneberger/Schmid 1995, S. 365). Darüber hinaus betont die Urbanistik in den letzten Jahren wieder verstärkt die ökonomische Bedeutung städtischer Zentralität. Man denke nur an das Leitbild von der »kreativen Wissensstadt« oder an die »Cluster«-Standortstrategie, wo es um Innovationen und die Steigerung sozialer Produktivität geht.
Das Recht auf die Stadt
Der Zugang zur gesellschaftlichen Ressource »Zentralität« wird nach Lefebvre von den herrschenden Mächten (Kapital und Staat) kontrolliert. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Philosoph 1968 – dem Jahr der internationalen Studentenbewegungen – in dem Manifest Le droit à la ville erstmals das »Recht auf die Stadt« einfordert. Bei diesem Slogan geht es weder um ein Besuchsrecht in der Stadt noch um die Rückkehr zur historischen Stadt, sondern um eine grundsätzliche Staats- und Herrschaftskritik. Lefebvre formuliert das »Recht auf die Stadt« weniger aus einer juridischen Perspektive, sondern versteht es vornehmlich als Forderung all jener, die unter dem reglementierten städtischen Alltag leiden oder in irgendeiner Weise marginalisiert werden: Jugendliche, Frauen, Migranten, Kolonisierte, Arbeiter und Intellektuelle.
Allerdings lassen sich in den Schriften Lefebvres Sinnverschiebungen ausmachen: In Le droit à la ville geht es um das »Recht auf die Stadt«. Doch seit La révolution urbaine hat der Begriff »Stadt« für Lefebvre nur noch eine ideologische Bedeutung. Nun ist vom »Recht auf Zentralität« oder dem »Recht auf die Straße« die Rede, das mit einem Projekt der allgemeinen Selbstbestimmung (autogestion) verknüpft werden müsse (Lefebvre 1972a, S. 160). Später spricht er vom »Recht auf die Differenz«, und schließlich geht es ihm um einen neuen politischen Vertrag über die »Bürgerschaftsrechte« (contract de citoyenneté), da sich die Verkopplung von Stadtbewohner (citadin) und Staatsbürger (citoyen) aufgelöst habe (vgl. Gilbert/Dikeç 2008).
Vor allem das »Recht auf die Differenz« hat für gewisse Missverständnisse gesorgt. In der angloamerikanischen Debatte gilt Henri Lefebvre unter anderem deshalb als Wegbereiter eines postmodernen Denkens. Doch hier ist Vorsicht geboten. Einerseits setzt der französische Philosoph den Begriff der »Differenz« mit Trennung und Absonderung gleich und verweist dabei auf verbotene, illegitime und subversive Aktivitäten. Die Kräfte der Homogenisierung (Industrie, Technokratie) versuchten diese Praktiken entweder zu »rekuperieren« oder zu »liquidieren« (Lefebvre 1991 [1974], S. 373). Es geht ihm nicht um eine Differenzpolitik, die auf Individualismus und Pluralismus abzielt, sondern um eine widerständige Praxis gegen die kapitalistische Normalisierung und Normierung. Andererseits thematisiert Lefebvre die Exklusions- und Segregationseffekte der urbanistischen Raumorganisation. Aus dieser Perspektive steht das »Recht auf die Stadt« für eine Partizipation an der städtischen Zentralität (Information, Soziabilität, Vergnügen etc.), die letztlich nur durch soziale Kämpfe erstritten werden kann. Diese widersprüchliche Konstellation versucht Lefebvre dialektisch zu fassen: »Der Fortbestand von Konflikten zwischen Unterschieden und Eigenheiten ebenso wie von denen zwischen den gegenwärtigen Interessen und den Möglichkeiten ist kaum zu vermeiden. Desungeachtet definiert sich das Städtische als der Ort, wo die Unterschiede sich kennen, und indem sie sich erkennen, erproben – wo sie sich also bestätigen oder aufheben.« (Lefebvre 1972a, S. 104 ff.) Im letzten Band der Kritik des Alltagslebens fasst er diese Perspektive unter der griffigen Formel »Differenz in Gleichheit« zusammen (Lefebvre 2005 [1981], S. 110].
Die Dialektik von »Randexistenz« und »Zentralexistenz« erläutert Lefebvre exemplarisch an dem Pariser Mai-Aufstand von 1968. Zum Ausbruch der Revolte trug wesentlich das technokratische Urbanisierungsprogramm der französischen Zentralregierung bei. Im Zuge der Industrialisierung der Universität und zur Entlastung der Kernstädte wurde in den städtischen Peripherien eine Reihe von Universitätszentren und Studentendörfern aus dem Boden gestampft. Auch die neu gegründete Fakultät Nanterre, die sich bald zur Keimzelle des Aufstands entwickeln sollte, lag weit außerhalb von Paris. Der Universitätsneubau fand dort in einem Umfeld statt, das aus Schutthalden, Elendssiedlungen und Wohnblöcken des sozialen Wohnungsbaus bestand. Gemäß dem funktionalen Leitbild der modernen cité universitaire wurden Studium, Freizeit und Wohnen völlig voneinander separiert. In den überfüllten, streng nach Geschlechtern getrennten Wohnheimen unterlagen die Studenten und Studentinnen einer repressiven Hausordnung. Doch die doppelt auferlegte Abspaltung (funktional und sozial) produzierte ungewollte Effekte. Die Universität Nanterre, an der Lefebvre zu dieser Zeit als Lehrender tätig war, wurde »zum Ort sexueller Hoffnungen und Rebellionen« (Lefebvre 1969 [1968], S. 95). Die Studentenschaft begehrte gegen die räumliche Peripherisierung und Disziplinierung auf und nahm ihr »Recht auf die Stadt« wahr. Lefebvre beschrieb die Ereignisse als »dialektische Interaktion zwischen Marginalität und urbaner Zentralität «: »Die Aktion kreist um die Sorbonne. Sie bedarf eines Zentrums, das ihr die ‚Heterotopie‘ Nanterres nicht mehr liefern kann. Die Bewegung wird diesen ex-zentrischen Ort von dem sie ausging, (momentan) aufgegeben. Die Studenten erobern das Quartier Latin zurück; sie eignen sich diesen Raum wieder an, der ihnen entrissen wurde und den sie im Kampf wiedererobert haben.« (Ebd., S. 106) Leider sind die urbanen Wurzeln der 68er-Revolte inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten (vgl. Harvey 2013, S. 38).
Im letzten Jahrzehnt hat die Forderung nach einem »Recht auf die Stadt« eine Renaissance erlebt. Unter dieser eingängigen Parole werden sehr unterschiedliche Themen der aktuellen Stadtentwicklung gebündelt: Privatisierung kommunaler Güter, Gentrifizierung und gated communities, kontrollpolitische Durchdringung öffentlicher Räume etc. Viele globale NGO-Netzwerke, darunter solche, die Unterstützung aus UN-Programmen wie etwa Habitat erhalten, haben Agenden entwickelt, in denen dieser Slogan auftaucht (so wurde zum Beispiel 2005 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre eine Welt-Charta zum »Recht auf die Stadt« beschlossen). Bei diesen Aktivitäten geht es vor allem um good urban governance, sprich menschenwürdiges und umweltgerechtes Wohnen und eine ausreichende Infrastruktur (Mayer 2009, S. 17). Solche pragmatischen Konzepte, deren Umsetzung in vielen Fällen zu einer Verbesserung des städtischen Alltagslebens beitragen würde, haben mit den Intentionen von Lefebvre nur wenig gemein. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass sich die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse gegenüber den frühen siebziger Jahren grundlegend geändert haben. Am Ende von Die Revolution der Städte beklagt Lefebvre die »außerordentliche Passivität der Leute« (ebd., S. 191). Deren angebliche »Stummheit« beruhe »auf der Zerstückelung des Phänomens der Verstädterung.« (Ebd., S. 195). Eine irritierende Wahrnehmung für die damalige Zeit. Das Grollen der 68er-Revolte ist zwar bei der Veröffentlichung von La révolution urbaine weitgehend verhallt, aber die »Kinder des Fordismus« reiben sich zunehmend an den rigiden Disziplinartechniken, die damals in Schule, Fabrik und Familie vorherrschen. In den siebziger Jahren kommt es zu einer Reihe von sozialen Bewegungen, die die autoritären