Das Urbane (Abkürzung für »verstädterte Gesellschaft«) wird nicht als eine erreichte Wirklichkeit definiert, in der Zeit vor dem Jetzt schon vorhanden, sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität. Sie ist das Mögliche, definiert durch eine Richtung am Ende eines Weges, der zu ihm hinführt. Um es zu erreichen, es zu verwirklichen, müssen vorab die Hindernisse umgangen oder beseitigt werden, die es im Augenblick noch unmöglich machen. Kann die theoretische Erkenntnis dieses mögliche Objekt, das Aktionsziel, im Bereich des Abstrakten belassen? Nein. Schon jetzt ist es abstrakt nur im Sinne der legitimen wissenschaftlichen Abstraktion. Die theoretische Erkenntnis kann und muß das Terrain und die Basis aufzeigen, auf denen sie beruht: ein soziales Geschehen, das noch im Fluß ist, eine urbane Praxis, die trotz aller Hindernisse im Entstehen ist. Daß diese Praxis im Augenblick verschleiert und zusammenhanglos erscheint, daß die zukünftige Wirklichkeit und die zukünftige Wissenschaft nur bruchstückartig existieren, ist nur ein Aspekt der kritischen Phase. Wenn die jetzige Orientierung auf ein Ziel zustrebt, wenn es für die heutige Problematik Lösungen gibt – sie müssen wir aufzeigen. Summa summarum: Das virtuelle Objekt ist nichts anderes als eine die ganze Erde umfassende Gesellschaft und die »Welt-Stadt«, jenseits einer weltweiten Krise der Wirklichkeit und des Geistes, jenseits der einst unter der Herrschaft des Ackerbaus entstandenen und im Verlauf der Ausweitung von Handel und Industrieproduktion beibehaltenen Grenzen. Nicht alle Probleme sind jedoch Probleme der Verstädterung. Landwirtschaft und Industrie behalten eine eigene Problematik, selbst wenn die Realität der Stadt sie modifiziert. Überdies ist es angesichts der Problematik der Verstädterung dem Denken nicht möglich, sich vorbehaltlos in die Erforschung des Möglichen zu stürzen. Der Analytiker wird die einzelnen Verstädterungstypen erkennen und beschreiben müssen. Er wird sagen müssen, was aus all den Formen, Funktionen, den städtischen Strukturen werden wird, die durch die Explosion der einstigen Stadt und die alles umfassende Verstädterung umgewandelt werden. Bislang ähnelt die kritische Phase einer »black box«. Man kennt den Input, manchmal kann man den Output wahrnehmen. Man weiß nicht recht, was drinnen vor sich geht. Damit werden die üblichen Verfahren der Zukunftsforschung oder der Projektion ausgeschlossen, bei denen von der Gegenwart, also von dem Festgestellten aus, extrapoliert wird. Für Projektion und Voraussage gibt es nur in einer Teilwissenschaft eine Basis: in der Demographie z. B. oder in der politischen Ökonomie. Was jedoch hier »objektiv« zur Debatte steht, ist eine Totalität.
Um zu zeigen, wie tief die Krise reicht, wie groß Ungewißheit und Bestürzung in der »kritischen Phase« sind, kann man eine Gegenüberstellung vornehmen. Stilübung? Ja, aber mehr als das. Hier einige Argumente für und gegen die Straße, für und gegen das Monument. Das Für und Wider der Natur, das Für und Wider der Stadt, das Für und Wider der Verstädterung, für das Für und Wider des Stadtkerns ... das sind Argumentationen, die wir auf später verschieben wollen. Für die Straße. Sie ist nicht nur Durchgangs- und Verkehrsplatz. Die Invasion durch das Auto, der Druck der Autoindustrie bzw. des Lobby, haben den Wagen zum Schlüsselobjekt werden lassen; wir sind besessen vom Parkproblem, hinter Fragen des Verkehrs hat alles zurückzustehen; soziales und städtisches Leben werden von alldem zerstört. Der Tag rückt näher, da man die Rechte und die Macht des Autos wird einschränken müssen, was nicht ohne Mühe und Scherben abgehen wird. Die Straße? Sie ist der Ort der Begegnung, ohne den es kein Zusammentreffen an anderen dafür bestimmten Orten (Cafés, Theater, andere Versammlungsorte) gibt. Diese privilegierten Örtlichkeiten beleben die Straße und werden von ihr belebt, sonst könnten sie nicht existieren. Auf der Straße, der Bühne des Augenblicks, bin ich Schauspiel und Zuschauer zugleich, zuweilen auch Akteur. Hier ist Bewegung; die Straße ist der Schmelztiegel, der das Stadtleben erst schafft und ohne den nichts wäre als Trennung, gewollte und erstarrte Isolierung. Schaffte man (nach Le Corbusier und seinen »nouveaux ensembles«) die Straße ab, so wären die Konsequenzen: Erlöschen jedes Lebens, die »Stadt« wird zur Schlafstätte, das Leben zur unsinnigen Funktionserfüllung. Die Straße hat Funktionen, die Le Corbusier außer acht ließ: sie dient der Information, ist Symbol und ist zum Spiel notwendig. Auf der Straße spielt man, lernt man. Die Straße ist Unordnung. Sicher. Alle Bestandteile städtischen Lebens, die an anderer Stelle in eine starre, redundante Ordnung gepreßt sind, machen sich frei, ergießen sich auf die Straße, und von dort aus in die Zentren; hier, ihren festen Gehäusen entrissen, begegnen sie sich. Diese Unordnung lebt, sie informiert, sie überrascht. Zudem schafft die Unordnung eine höhere Ordnung. Die Arbeiten von Jane Jacob haben gezeigt, daß in den Vereinigten Staaten die Straße (flutend, belebt) der einzige Ort ist, wo der einzelne vor Kriminalität und Gewalt sicher ist (Diebstahl, Vergewaltigung, Aggression). Wo die Straße verschwindet, nimmt die Kriminalität zu und organisiert sich. Auf der Straße und durch sie manifestiert sich eine Gruppe (die Stadt selber), bringt sich zum Ausdruck, macht sich die Örtlichkeit zu eigen, setzt eine Raum-Zeit-Beziehung in die Wirklichkeit um. Damit wird offensichtlich, daß Gebrauch und Gebrauchswert wichtiger sein können als Austausch und Austauschwert. Revolutionen gehen normalerweise auf der Straße vor sich. Zeigt das nicht, daß ihre Unordnung eine neue Ordnung hervorbringt? Ist nicht der Raum, den die Straße im Stadtgeschehen einnimmt, der Ort des Wortes, der Ort, an dem Worte und Zeichen ebenso wie Dinge getauscht werden? Ist sie nicht der bevorzugte Ort zur Niederschrift des Wortes? Wo es »ausbrechen« und sich unter Umgehung von Vorschriften und Institutionen auf den Mauern niederschreiben kann?
Gegen die Straße. Ort der Begegnung? Vielleicht. Aber Begegnungen welcher Art? Oberflächlicher. Man streift sich auf der Straße, aber man begegnet sich nicht. Das »man« überwiegt. Auf der Straße kann sich keine Gruppe bilden, kein Subjekt entsteht; sie ist bevölkert von allen möglichen Leuten auf der Suche. Wonach? Auf der Straße entfaltet sich die Ware: Hier ist ihre Welt. Die Ware, die keine Bleibe an einem eigens für sie bestimmten Ort gefunden hat (Platz, Halle), hat sich über die ganze Straße ausgebreitet. Im Altertum war die Straße nichts als ein Anhängsel von Orten mit besonderen Privilegien: Tempel, Stadion, Agora, Garten. Später, im Mittelalter, besetzte das Handwerk die Straße. Der Handwerker war Produzent und Verkäufer zugleich. Dann wurde der Händler, der nichts als Händler ist, Herr der Straße. Die Straße? Eine Auslage, ein schmaler Gang zwischen den Läden. Die Ware, zum Schauspiel geworden (provozierend, lokkend), läßt den Menschen zum Schauspiel für den Menschen werden. Mehr als anderswo sind hier Austausch und Austauschwert wichtiger als der Gebrauch, dessen Bedeutung auf einen Rest zusammengeschrumpft ist. So sehr trifft das zu, daß die Kritik an der Straße noch weiter gehen muß: Die Straße wird zum bevorzugten Ort einer Unterdrückung, die durch den »realen« Charakter der sich hier bildenden Beziehungen (dadurch also, daß diese schwach sind, entfremden und entfremdet sind) bedingt wird. Durch die Straße, den Raum der Kommunikation, zu gehen, ist ebenso Gebot wie Verbot. Sobald Gefahr droht, ergeht das Verbot, sich auf der Straße aufzuhalten und zu versammeln. Wenn die Straße den Sinn hatte, die Begegnung zu ermöglichen, dann hat sie ihn verloren; sie mußte ihn verlieren, indem sie sich im Rahmen einer notwendigen Reduktion darauf beschränkte, nur Durchgangsort zu sein, sich aufspaltend in Passagen für Fußgänger (gehetzt) und Autos (begünstigt). Die Straße hat sich zum organisierten Netz des Konsums durch/für den Konsum gewandelt. Der (noch geduldete) Fußgänger bewegt sich eben so schnell – seine Geschwindigkeit wird so bemessen –, daß er Schaufenster betrachten und ausgestellte Gegenstände kaufen kann. Die Zeit wird zur »Waren-Zeit« (Kauf- und Verkaufszeit, gekaufte und verkaufte Zeit). Die Straße regelt die Zeit jenseits der Arbeitszeit. Sie unterwirft sie demselben System – dem von Leistung und Profit. Sie ist nur mehr obligatorischer Übergang zwischen Zwangsarbeit, programmierter Freizeit und Wohnraum, der ebenfalls Konsumort ist. Die neokapitalistische Konsum-Organisation demonstriert auf der Straße ihre Herrschaft, die nicht auf politischer Macht, noch auf Unterdrückung allein (offen oder versteckt) beruht. Die Straße, ein Aufeinanderfolgen von Schaufenstern, von zum Verkauf ausgestellten Dingen, zeigt, wie zur Logik der Ware eine (passive) Betrachtungsweise hinzukommt, die Charakter