Front ohne Helden. Franz Taut. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Franz Taut
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitzeugen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783475544927
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sprang in den Laufgraben hinunter, das schwere Funkgerät im Arm. Die Luft war durchsetzt mit dem bitteren Geruch von Pulverqualm. Zur Linken schlugen Flammen hoch.

      Fendt sah vor sich den Eingang des Bunkers. Die Öffnung schien zu schwanken, die Erde schwankte, es war wie der Weltuntergang, wie das Ende von allem. Fendt fand sich im Dunkeln, die Lampe war erloschen. Dann dröhnte ein Schlag wie von einer Riesenfaust auf die Decke des Bunkers. Splittern, Bersten, etwas traf Fendt am Kopf. Rot kreisendes Licht, dann Schwärze, in die Fendt trudelnd hinabstürzte. Und dann nichts mehr; Wachtmeister Fendt hatte das Bewusstsein verloren. Er hörte nicht das Rumoren und Rasseln der vom Don heraufkriechenden Panzer und nicht das »Urrä« der russischen Angriffswellen.

      2

      Major von Talvern legte den Handapparat des Feldtelefons auf. Nichts. Schepetowka war schon seit Stunden von der Außenwelt abgeschnitten. Sämtliche Fernsprechverbindungen waren unterbrochen. Waren die Russen, nachdem sie am frühen Morgen dieses 16. Dezember 1942 zum Großangriff gegen die italienischen Stellungen am Don angetreten waren, schon so weit vorgestoßen – mit Reitertrupps wie vor siebenundzwanzig Tagen ins Hinterland der 3. rumänischen Armee? Oder hatten Partisanen die Kabel durchschnitten? Oder hatten die verschwundenen Hiwis geheime Sabotagebefehle durchgeführt?

      »Die Leitungen sind tot«, sagte Talvern zu General Körner, der sich über die große, über zwei Tische ausgebreitete Karte beugte.

      General Körner wischte mit dem Rücken seiner knochigen Hand über die Karte, als wolle er etwas auslöschen, was mit Kohle eingezeichnet war und den Eindruck erweckte, als sei es unaustilgbar.

      Nimm doch wenigstens jetzt dein Monokel ab, dachte der General, irritiert durch die Selbstsicherheit, die der Ia auch jetzt noch zur Schau trug, als wäre nichts Bemerkenswertes geschehen. Dabei befand man sich in völliger Ungewissheit. Seit dem alarmierenden Anruf des Verbindungsstabes beim Oberkommando der 8. italienischen Armee hatte man nichts mehr gehört. Weder von vorn, von der Front, noch aus dem Hinterland. Man wusste nicht, ob die Italiener den Angriff abgewehrt hatten, ob im Falle von Feindeinbrüchen die Auffangstellungen besetzt worden waren, ob die Donfront überhaupt noch bestand. Nach dem Anruf vom italienischen Oberkommando hatte General Körner die Regimentskommandeure und die Kommandeure der selbstständigen Formationen, wie es das Pionierbataillon, die Panzerjägerabteilung und die Aufklärungsabteilung waren, nach Schepetowka befohlen. Seit der Besprechung waren Stunden vergangen, aber bisher war in der Funkstelle, die nach dem Ausfall der Fernsprechleitungen mit den Teilen der Division Verbindung hielt, kein Spruch eingegangen, der zur Klärung der undurchsichtigen Lage hätte beitragen können. Und die Funkanlage des italienischen Oberkommandos schwieg.

      Im Schulhaus von Schepetowka war es kalt. General Körner trug seinen pelzgefütterten feldgrauen Mantel mit den prächtigen roten Aufschlägen und den golddurchwirkten geflochtenen Schulterstücken. Bei der Ankunft in Schepetowka hatte der General es untersagt, Bestandteile unbeschädigter Gebäude oder irgendwelche Einrichtungsgegenstände als Brennmaterial zu verwenden. Insbesondere die Einrichtung der drei Klassenzimmer im Schulhaus – Bänke, Katheder und Schränke – war durch einen eindeutigen Befehl vor Entnahme oder Vernichtung geschützt. Es war ja überhaupt ein Wunder, dass die Einrichtung bei der Ankunft des Divisionsstabes noch vorhanden gewesen war. Das mittlerweile beschaffte Heizmaterial war streng rationiert und wurde vom Kommandanten des Stabsquartiers persönlich zugeteilt. Nur Talvern als Einziger im Stab wusste, was den sonst nicht zu Konzilianz und Nachsicht neigenden General bewogen hatte, solche Rücksichtnahme im Feindesland zu üben. Der General glaubte nicht an allzu langes Verweilen in der windigen Ecke zwischen Don und Tschir, und er wollte nicht, dass die russischen Bewohner von Schepetowka bei ihrer Rückkehr ausgeplünderte Wohnstätten vorfänden.

      Talvern horchte plötzlich auf. War es Einbildung, oder war nicht aus großer Ferne ein Grummeln zu vernehmen, wie wenn schwere Eisenkugeln über einen Bohlenbelag rollten?

      Er blickte zu General Körner.

      Der General nickte. »Da haben wir’s, Talvern! Aber kommt das nicht von Osten?«

      Jetzt vibrierten ganz leise die mit Streifen aus Zeitungspapier überklebten Fenster. Kam der Kampflärm näher, oder hatte nur der Wind sich verstärkt oder gedreht?

      »Die Hauptsache ist, es kommt«, sagte der Major. »Es war ja unabwendbar. Wenn es da ist, kann man Entscheidungen treffen –«

      »Entscheidungen?«, warf General Körner nachdenklich ein. »Ist es nicht so, Talvern, dass unser Handeln uns neuerdings aufgezwungen wird? Stalingrad, diese erste große Niederlage, die im Begriff ist, einen Mythos zu zerstören, scheint die Herren im OKW paralysiert zu haben.«

      General Körner trat ans Fenster und lauschte hinaus. Der ferne Geschützdonner wurde auf einmal von anderen Geräuschen übertönt. Ein Pulk vieler Fahrzeuge näherte sich Schepetowka.

      General Körner drehte sich zu Talvern um. »Was ist das? Hören Sie?«

      Talvern rief Leutnant Walter vom Nebenzimmer. »Schauen Sie nach, was da vorgeht!«, befahl er. Seine Stimme klang ruhig. Gab es denn nichts, was Anton von Talvern aus der Fassung bringen konnte?

      Leutnant Walter lief die Treppe hinunter. Als er zurückkam, war er erregt und außer Atem.

      »Italienische Fahrzeuge«, meldete er, »eine Rückzugskolonne, die nicht abreißt.«

      »Anhalten!«, rief der General mit rauer Stimme. »Sofort anhalten! Holen Sie den italienischen Leutnant! Nehmen Sie ihn als Dolmetscher mit!«

      »Zu Befehl, Herr General!«

      Leutnant Walter hinkte hinaus. Ein Stecksplitter in seinem linken Oberschenkel behinderte ihn. Er klopfte an die Tür zum Vorzimmer des Ic und winkte Leutnant Cornalli heraus.

      »Ihre Landsleute rollen Richtung Heimat«, sagte er. »Wir sollen Sie aufhalten, Befehl vom General.«

      Sie zogen ihre Mäntel über, die auf dem Flur an den Haken hingen, an denen früher die Schulkinder von Schepetowka ihre Mäntel aufgehängt hatten. Sie schnallten um, setzten ihre Mützen auf und stiegen eilig die knarrende Holztreppe hinunter. Als sie ins Freie hinaustraten, empfing sie der eisige Steppenwind und trieb ihnen winzige Schneekristalle ins Gesicht. Der Nebel, der sich tagelang nicht gelichtet hatte, war verschwunden, aber die jagenden Schneewolken zogen so niedrig, dass sie die Dächer der schemenhaft ragenden Häuser zu berühren schienen. In Schwaden wirbelten die winzigen Flocken.

      In das Johlen des Windes mischte sich Motorengedröhn.

      Auf einem schmalen Seitenweg gelangten die beiden Offiziere zur Rollbahn, die den Ort von Nord nach Süd durchschnitt, ein breites Band festgefahrenen Schnees. In Zweierreihe, dicht bei dicht, bewegten sich Lkw der italienischen Armee im Schritttempo vorwärts. Die Spitze der Rückzugskolonne hatte Schepetowka bereits passiert.

      Winkend und rufend versuchten Leutnant Walter und Tenente Cornalli sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber niemand achtete auf sie. Die winterlich vermummten Fahrer hatten die Wagen vor sich im Auge, die Beifahrer blickten stur geradeaus, und so weit sich Mannschaften unter den Planen verbergen mochten, hielten sie sich unsichtbar.

      Tenente Cornalli hatte Tränen ohnmächtigen Zorns in den Augen. Wer hatte die Führung dieses verdammten Haufens? War denn hier niemand, der noch bei klarer Überlegung, der noch bei Verstand war? An dem deutschen Offizier und an ihm rollten diese Elenden vorbei, als ob sie beide räudige Köter wären, die die Kolonne ankläfften!

      »Hat keinen Zweck«, rief Leutnant Walter, »diese Burschen bringt man nicht einmal mit Gewalt zum Stehen.«

      Mit Gewalt, dachte er, wenn wir uns denen in den Weg stellen, fahren die uns bedenkenlos über den Haufen.

      Auf einmal hatte Cornalli seine Beretta in der Hand. Mit der Pistole fuchtelnd, brüllte er auf Italienisch Befehle und Flüche. Doch auch von der drohend geschwungenen Waffe nahm niemand in der langsam vorbeirollenden Kolonne Notiz. Bis Leutnant Walter plötzlich den Lauf eines kurzen italienischen Karabiners entdeckte, der sich durch ein heruntergekurbeltes Seitenfenster schob.

      »Herr Cornalli!«,