Der Schreiberling. Patrick J. Grieser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patrick J. Grieser
Издательство: Bookwire
Серия: Der Primus
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947816040
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Nur noch wenige Schritte.

      Als er durch die dichten dunklen Tannen trat, bemerkte er die Kälte, die ihm entgegenschlug. Es war, als hätte er eine Schwelle überschritten, den Übergang in eine andere Welt. Von den sommerlichen Temperaturen war hier zwischen den Baumriesen nichts mehr zu spüren. Obwohl er den weiten Weg gerannt war und sehr stark schwitzte, bildete sich eine Gänsehaut auf seinen Armen. Er fröstelte. Sein Schweiß fühlte sich plötzlich kalt und schmierig auf der Haut an.

      Jakob verfiel wieder in ein Lauftempo und joggte den Waldweg entlang. Schließlich gabelte sich der Weg erneut auf. Irritiert blieb er stehen und kratzte sich am Hinterkopf. Er wusste nicht mehr genau, in welcher Richtung die alten Weiher lagen.

      In seinem früheren Leben hatte er die Fischteiche stets gemieden. Sie waren das Revier von Dirk Wolpers und seinen Schlägern gewesen. Wer dort unerlaubt auftauchte, hatte eine gehörige Tracht Prügel bekommen. Instinktiv entschied er sich für den linken Pfad. Es war sein inneres Bauchgefühl, vielleicht eine Art Intuition, die ihn zu dieser Entscheidung veranlasste. Und sein Bauchgefühl sollte recht behalten.

      Nach circa zehn Minuten erreichte er das Gewässer. Das Erste, was er wahrnahm, war der unangenehme Geruch von Moder und Verwesung, der wie eine unsichtbare Wolke über dem schlammigen Wasser herrschte. Überall ragten verwitterte Baumstümpfe aus der Erde. Eine gespenstische Stille lag über dem Teich. Jakob vermisste das Quaken der Frösche, das sanfte Plätschern der Fische, wenn sie die Oberfläche durchstießen, um ein unvorsichtiges Insekt zu verschlingen. Die Wasseroberfläche war jedoch so glatt wie geschliffenes Glas.

      Langsam schritt Jakob um das faulige Gewässer herum. Auf der anderen Seite befand sich verwildertes Gebüsch. Von Weitem sah es so aus, als sei das Gestrüpp entfernt worden, um einen Weg zu bilden, der tiefer in das Herz des Waldes führte. Doch dem war nicht so bei näherem Hinsehen. Jakobs Bauch zog sich zusammen. Jetzt hast du deine Gewissheit!, flüsterte ihm seine innere Stimme zu. Auf dem Boden lagen die Bahnschienen! Deutlich größer und wuchtiger als gewöhnliche Bahnschienen auf einem aufgefüllten Schotterbett. Man konnte fast meinen die Hecken und Bäume wären zurückgewichen, um den Gleisen Platz zu machen.

      Jakob trat vor die Schienen. Jetzt erkannte er auch die Gravur, die in den Stahl eingelassen worden war. Kýrie eléison, was so viel wie Herr, erbarme dich heißt! Eine archaische Huldigung an eine Vielzahl von Göttern – in diesem Fall an die mächtigen Olympioi, die das Multiversum beherrschten und ihre Wurzeln in der griechischen Mythologie hatten.

      Die Angst schien Jakob förmlich mit dem Boden zu verwurzeln. Die Schienen waren noch da! Jakob blickte das Gleisbett entlang. Sie waren noch nicht weit ausgebaut, doch mit jeder Stunde, die verstrich, würden sie wie von Geisterhand länger werden. Vielleicht ein paar Tage noch, und sie wären lang genug, um die Seelensprinter in diese Dimension zu bringen. Fuck!

      Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Ein Gedanke jagte den anderen. Wenn die tollwütigen Seemänner eintrafen, dann wäre er geliefert. Normale Waffen konnten diesen Kreaturen mit ihren altertümlichen Taucheranzügen nichts anhaben. Es waren Dämonen, die nicht den irdischen Gesetzen unterworfen waren. Man konnte sie nur mithilfe von Bannzaubern und Ritualen zur Strecke bringen. Eines dieser Rituale war in einer von Dominikanermönchen geschriebenen Ausgabe des Hexenhammers verewigt worden. Es gäbe die Möglichkeit, nach Darmstadt zu fahren und in der Universitätsbibliothek den Hexenhammer an sich zu nehmen. Jakob schüttelte den Kopf. Damals waren sie als Gruppe aufgebrochen und hatten mehr Glück als Verstand gehabt, um dieses geheimnisvolle Buch in ihren Besitz zu bringen. Sie waren mehrere Personen gewesen. Außerdem hatte er den Cowboy und Simon Hauser an seiner Seite gehabt. Jetzt war er alleine. Es gab niemanden mehr, der ihn unterstützte. Und auf einmal fühlte er sich so schrecklich müde und ausgelaugt. Seine Kräfte schienen zu schwinden. Er hatte eine unglaubliche Reise hinter sich, hatte so viele Freunde verloren und war dem Tod mehr als einmal von der Schippe gesprungen. Jetzt war es genug! Er konnte nicht noch einmal das Ganze von vorne durchleben. Und es gab auch keinen Primus mehr, der ihm aus dieser sterbenden Welt bei der Flucht helfen würde. In diesem Moment fühlte er sich wie jemand, der des Lebens überdrüssig war und nur noch wollte, dass es aufhörte. Besonders groß war für ihn die Enttäuschung, dass der Primus ihn reingelegt hatte. Es war sein Todesurteil gewesen!

      Tief in Gedanken versunken lief er den Waldweg zurück zur Stockwiese. Damals hatten sie sich in der alten Kurklinik vor den tollwütigen Seemännern versteckt. Es war der ideale Unterschlupf gewesen. Die Klinik hatte über viele Jahre als Lungenheilanstalt gedient, war aber im Laufe der Zeit geschlossen worden, weil die Kurgäste ausblieben. Seit der Schließung der Kurklinik hatte sich niemand mehr um das parkähnliche Gelände gekümmert, sodass es sich mit der Zeit in ein verwildertes Areal verwandelt hatte.

      In der Kurklinik könnte er vielleicht eine Zeit lang untertauchen. So wie damals. Die tollwütigen Seemänner würden ihn in dem verfallenen Gemäuer mit seinen labyrinthartigen Gängen nicht finden. Aber wenn er sich dort versteckte, dann würde es seinen Tod nur hinauszögern. Jakob erinnerte sich plötzlich daran, dass auf ihrer Flucht mit dem Seelensprinter, eigenartige Flugzeuge am Himmel aufgetaucht waren, die mit ihren stählernen Stacheln wie fliegende Kastanien ausgesehen hatten. Aus den Luken dieser Flugobjekte war eine kristalline Flüssigkeit geströmt, die das Land in ein Flammenmeer verwandelte. Wenn ihn nicht die tollwütigen Seemänner erwischten, dann auf jeden Fall die Flugzeuge mit ihrer tödlichen Ladung.

      Tief in Jakob war noch ein letzter Funke Hoffnung, das letzte Aufbäumen seines Überlebenswillens. Und so machte er sich auf den Weg in Richtung des Sanatoriums.

      Kaum hatte er den Wald wieder verlassen, schlug ihm die Restwärme des Sommers entgegen. Und auch die Geräusche der Natur drangen an sein Ohr: Vogelgezwitscher, das freudige Lärmen der Kinder, die mit ihren Rädern durch die Stockwiese fuhren, das Rauschen der Autos in der Ferne.

      Fünf Minuten später stand er vor der Heilanstalt. Er konnte nur schemenhaft das unansehnliche Betongebäude von seiner jetzigen Position aus sehen. Hoch gewachsene Bäume und Gebüsche versperrten die Sicht auf den Eingangsbereich. Das gesamte Klinikareal wurde von einer verwilderten Hecke samt Maschendrahtzaun eingesäumt. Jakobs Blick tastete über den Zaun, doch es gab keine Öffnung mehr. Er erinnerte sich wehmütig daran, dass Roland damals mit einer Drahtschere ein Loch in den Maschendrahtzaun geschnitten hatte, sodass sie Zugang zu dem dahinterliegenden urweltlichen Garten hatten. Sie hatten sich auf dieser Welt nie in der Kurklinik getroffen. Ihm fiel ein, dass ihm der Primus erzählt hatte, dass es auf dieser Welt keinen Jakob Großmüller gebe. Möglicherweise existierten dann auch kein dicker, gutmütiger Schnute, der gerne Videospiele spielte, kein schlaksiger Roland, auf den man sich immer verlassen konnte, und auch nicht der zurückgebliebene Mehlsack oder der introvertierte Peter. Ihre Rolle als Außenseiter an der Schule hatte sie damals fest zu einer Gruppe zusammengeschweißt. Wirklich schade … Es waren gute Freunde gewesen. Sie fehlten ihm so sehr!

      »Na, dann mal an die Arbeit!«, sagte er und versuchte, über den Zaun zu klettern, denn eine Drahtschere hatte er nicht dabei. »Dann wollen wir mal das Ende der Welt vom obersten Stockwerk aus anschauen. Freie Sicht für alle!« Mit diesen Worten tauchte er in die Büsche des Sanatoriums ein.

      »Was war das?«, fragte Jeremy Slater, die Winchester fest umschlungen. Seine Mannschaft hatte sich vor der Winterhütte eingefunden und starrte auf die Spuren im Erdreich, die um das Gebäude führten. Die Abdrücke der Klauen waren besonders gut zu sehen, denn der Boden war immer noch schlammig. Diese Kreatur musste riesig sein.

      »Ich weiß es nicht. Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete der Pawnee und in seinem Gesicht zeigte sich wieder eine Mischung aus Ratlosigkeit und Verwirrung.

      »Ist es weg?«

      Nach kurzem Zögern erwiderte Morgan Elroy: »Ja, ich denke schon.«

      »Du denkst?«

      »Die Spuren führen eine halbe Meile in den Wald hinein. Ich bin ihnen nicht weiter gefolgt.«

      »Vielleicht ein sehr großer Bär?«

      Hilflos zuckte der Indianer mit den Achseln. »Die Spuren sehen eher nach einem großen Wolf aus. Was auch immer es ist, es ist kein gewöhnliches Tier.«