Das Baby war seinerzeit von der Familie in Westberlin aus dem staatlichen Kinderheim der DDR herausgeholt worden – unter allergrößten Schwierigkeiten und mit viel Glück dazu. Als die Mutter schließlich zurückgekommen war, hätte das Mädchen gesichert und geborgen in einer neuen Familie in Westdeutschland aufwachsen können. Aber was geschah? Ausgerechnet unter eingefleischten, linientreuen Kommunisten suchte sich die Oberschülerin ein Ersatz-Zuhause. Die gläubigen Anhänger jener Gewalt, die der Mutter Jahre des Lebens und ihr, der Tochter, die Mutter gestohlen hatte, zog sie den eigenen Eltern vor!
Kühl und herzlos ist das Verhältnis dieser Tochter zu ihrer Mutter immer geblieben. Kalt und ohne Liebe war auch das Begräbnis, das sie der früh Verwitweten und früh Verstorbenen bereitet hat. Warum es nie eine Brücke gab, auf der Mutter und Tochter einander hätten begegnen können? Speiste sich der offensichtliche Wunsch der Jüngeren, der Mutter weh zu tun, aus einst erlittenem und nie überwundenem Kleinkinderleid, verlassen, verraten worden zu sein? Lebte die Tochter mit ihrer Verweigerung unbewußt eine irrationale Rache aus?
Auch für Verwandte wurde oft das Leben nicht leichter, wenn sie sich der verlassenen Kinder politischer Gefangener angenommen haben. So erlebte es 1951 die Familie von Alice Haber in Rudolstadt:
„Meine Tochter war ja bei der Verhaftung dabei. Mich haben sie ins Auto reingenommen, das Kind – ich hatte sie auf dem Arm – das Kind haben sie einfach rausgetan. Da war wohl noch ein deutscher Beamter. Später, bei den Vernehmungen, wenn man wieder mal von draußen Kinder spielen hörte, hieß es immer: ‚Das ist Ihre Tochter. Hören Sie sie?’ Natürlich stimmte das nicht. Sie war nie am Gefängnis. Und eigentlich habe ich das auch nicht so recht geglaubt. Ins Herz schnitt das schon – die Fröhlichkeit der Kinder – und du warst von deinem getrennt. Bange Frage: für wie lange?
In Wirklichkeit hatten sie meine Erika gleich zu meiner Mutter gebracht. Aber meine Eltern waren zu alt und zu krank. So haben meine Schwester und mein Schwager sie zu sich genommen. ‚Wir sind ihre Paten’, haben sie gesagt, ‚und es ist der Sinn einer Patenschaft, dass man sich um sein Patenkind kümmert, wenn Mutter oder Eltern nicht weiter sorgen können.’
Was mit mir war, wußte natürlich keiner. Aber eine Angestellte von uns, die ich dann in Hoheneck wiedertraf, war zwei Jahre vorher verhaftet worden. Es war also keinem ganz neu, dass Leute plötzlich und ohne erkennbaren Grund verschwanden. Mehr wußte niemand und es konnte sich auch keiner etwas zusammenreimen. Wer hätte auch darauf kommen sollen, dass es im Grunde um eine Ehegeschichte ging! Mein Mann war fremdgegangen, hing aber noch immer an mir und dem Kind. Er wollte zurück. Deshalb – um mich aus der Welt zu schaffen – hat mich seine Neue denunziert!
Dass Erika keine Erinnerung an die Verhaftung hatte, war ein Glück. Sie war damals noch zu klein gewesen. Wenn sie nach mir fragte, erklärte ihr meine Schwester, ich sei im Krankenhaus. Aber damit gab sie sich nicht zufrieden. Sie hat gesagt: ‚Wenn jemand im Krankenhaus ist, dann kann man ihn besuchen. Wie ich im Krankenhaus war, war die Mutti auch immer da. Und wir wollen da mal hin!’ ‚Ja’, sagte meine Schwester, ‚da können wir aber nicht hin, das ist weit, weit weg!’ So ging das eine ganze Weile.
In dem Vorort von Rudolstadt, wo meine Schwester wohnte, hatte sich ja rumgesprochen: ‚Die Erika, das ist gar nicht deren Kind, das ist ja … ’ wie halt in Familien so was erzählt wird. Auf jeden Fall – meine Tochter ist dann in die Schule gekommen, und eines Tages haben die anderen Kinder ihr gesagt: ‚Deine Mutti ist überhaupt nicht krank! Die ist gar nicht im Krankenhaus, die ist im Gefängnis!’ Da kam sie weinend heim und hat erst gar nichts gesagt. Dann hat sie immer nur gefragt und gefragt: ‚Gell, aber meine Mutti hat doch nichts Böses gemacht?’ Mein Schwager hat sie getröstet, dass ihre Mutti wirklich nichts Böses gemacht hat. Aber es war sehr schwierig, ihr das klarzumachen, weil – ja nun, weil es ja immer hieß, wer böse ist, kommt ins Gefängnis. Und wieso war ich dann drin? Viel sagen durften sie ihr nicht, wenn sie sich nicht selber in Gefahr bringen wollten. Etwa, dass die die Bösen wären, die mich da reingesteckt haben! Aber alle Vorsicht hat nicht viel geholfen. Wo sie nur konnten, haben die Behörden meiner Schwester Knüppel zwischen die Beine geworfen.“
Zum Beispiel, als es um eine etwas größere Wohnung ging für nun, mit der kleinen Nichte, zusammen vier Personen. Der Antrag hatte bescheiden auf zweieinhalb Zimmer gelautet. Doch die Antwort war rüde:
„‚Wenn Ihnen das Kind zuviel ist, wir haben Heime, wo wir es hintun können!’ Und das war noch nicht ihre letzte Schikane. Schlimm war auch, was sie meinem Neffen angetan haben. Sie hätten ihm fast das Leben zerstört.
Er war ein sehr guter Schüler. Deshalb sollte er auf eine höhere Schule gehen. Ich weiß nicht, ob es diese EOS, die Erweiterte Oberschule, damals schon gab oder ob noch die alten Gymnasien bestanden. Aber trotz guter Zensuren und aller Fürsprache des Direktors, der ihn kannte, wurde er dort nicht zugelassen, weil meine Schwester ‚ein Verbrecherkind aufgenommen’ hatte! Statt dessen wollten sie den Jungen mit 16 zur Armee ziehen. Nach der Musterung in Weimar – tauglich! – ist er deshalb mit einem anderen abgehauen. Per Anhalter nach Berlin, dann ausgeflogen nach Hamburg. Dort mußte er sich zuerst als Feldarbeiter verdingen. Der Weg, auf dem er dann doch noch Abitur und Studium schaffte, war sehr, sehr lang und sehr schwer.“
Alice Habers Eltern wohnten in Eisenach. Dahin mußte sie zurück, als sie 1955 entlassen wurde. Ihre Tochter Erika wohnte damals immer noch bei Alices Schwester in Rudolstadt. Dorthin mußte sie fahren, wenn sie sie sehen wollte. Allerdings – so einfach, wie das jetzt klingt, war das nicht:
„Unerlaubt war das und deshalb jedesmal eine Angstpartie. Es war so: Ohne Ausweis durfte man nicht den Wohnort verlassen. Aber einen Ausweis gaben sie mir lange nicht.
Beim meinem ersten Besuch in Rudolstadt – meine Schwester hatte dem Kind mein Kommen angekündigt – da lag Erika schon im Bett. Wie sie meine Schritte hört und ich mich über sie beuge, schlägt sie plötzlich ihre Augen auf und sagt strahlend: ‚Du bist meine Mutti! – Aber gell, du heiratest nicht wieder?’ Denn inzwischen hatte man ihr erzählt, warum ich abgeholt worden war.“
Seit ihrer Entlassung im Sommer 1955 ist Alice Haber nun schon wieder fast 40 Jahre ein freier Mensch. Aber erst 1993 hat sie zum ersten Mal mit ihrer Tochter über die Vergangenheit zu sprechen versucht.
„Ich habe gesagt, mich wundert, dass sie nie gefragt hat. Da wurde sie ganz blaß. ‚Mutti,’ hat sie gesagt ‚ ‚bitte erzähle mir nichts! Es belastet mich zu sehr, wenn ich weiß, was du mitmachen mußtest! Das ertrage ich nicht!’ – Wer aber fragt und hören will, das sind meine drei Enkel!“
Ja, und wie war das sonst, als Alice zurückgekommen war? Die Behörden gaben ihr nicht nur keinen Ausweis, sondern auch keine Arbeit. So versuchte sie über alte Bekannte ihr Glück. Schließlich kam sie bei einem alten Apotheker als Aushilfe an.
„Na, und dann kam der 1. Mai ran. Da kommt einer und sagt zum Apotheker: ‚Sie haben hier eine eingestellt, die gesessen hat. Die soll mitmarschieren am 1. Mai und das Transparent tragen!’ Dann sollte ich eine rote Nelke kaufen. Da war ich so wütend! Transparent tragen? Ich habe gesagt: ‚Wissen Sie was? Ich habe einen kaputten Rücken. Das ist Transparent genug!’ Den Rückenschaden hatte ich von der Arbeit in der Haft. Sogar ein Arzt in der DDR hatte mich deshalb als zu 80 Prozent schwerbeschädigt eingestuft.
Plötzlich, Anfang Mai, mußte ich jedenfalls schleunigst fort. Das kam so: Gegenüber der Apotheke war die Polizei. Eines Tages kommt eine von drüben und sagt: ‚Sie müssen verschwinden. Sie haben einen Fehler gemacht!’ Es ging um das Transparent. ‚Sie haben sich geweigert…’ ‚Geweigert?’, sage ich, ‚ich habe mich nicht geweigert! Ich habe gesagt, ich kann es nicht tragen, weil mein Rükken kaputt ist. Ich muß mich ja schon bei der Arbeit dauernd setzen! Fragen Sie mal meinen Chef.’ Da sagt sie: ‚Ich besorge Ihnen einen Paß.’ Aber über Berlin – es gab noch keine Mauer – das würde ich ja nicht schaffen, meinte sie. Deshalb würde