Uwe Johnson. Bernd Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Neumann
Издательство: Bookwire
Серия: eva digital
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783863935047
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Die Streichung wurde ihrerseits gestrichen. Die SED sah ein, daß sie sich in diesem Kirchenkampf übernommen hatte. Auf den 10. Juni 1953 fiel die erneute Anerkennung der »Jungen Gemeinde« durch das Innenministerium, vollzogen vom Ministerpräsidenten Grotewohl. Stalin war tot. Berija würde ihm bald folgen. Und niemand wußte so recht, wie es weitergehen würde. Die Regierung versuchte eine Frontbegradigung. Schloß ihren Frieden mit der Kirche und ließ auf diese Weise auch wieder den exmatrikulierten Johnson zum Studium zu.

      Die Regierung bedauert ihre Massnahmen. [...] Alle Schüler, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde von den Oberschulen gewiesen wurden, müssen wieder aufgenommen werden. Wegen Eintretens für solche Schüler entlassene Lehrer dürfen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. (Begleitumstände, S. 67)

      Johnson war, als man ihm die Streichung der Streichung eröffnete, bereits entschlossen, an die Universität Leipzig zu gehen. Auch wird er aufschreiben, worüber er in Rostock nicht mehr reden konnte. So konsequent wie subtil unterstand der angehende Schriftsteller dabei dem Denken jenes Literaturtheoretikers, der Literatur stets als gesellschaftliche Veranstaltung begriffen hatte: Walter Benjamin.

      So wird er zum Lehrling in diesem Beruf, den er sich selber beizubringen hat. Flugs erfindet er für sich noch einmal Walter Benjamins IV. These über die Technik des Schriftstellers:

       Meide beliebiges Handwerkszeug. Pedantisches Beharren bei gewissen Papieren, Federn, Tinten ist von Nutzen. Nicht Luxus, aber Fülle dieser Utensilien ist unerlässlich. (Begleitumstände, S. 69)

      Johnson begann die Babendererde in der postum veröffentlichten Form zu verfassen.

      HILDEGARD EMMEL – ERSTE LESERIN DER »BABENDERERDE«

      Hildegard Emmel, Anfang der vierziger Jahre universitäre Lehrkraft, spätere Professorin für Deutsche Literatur, war die erste »berufene« Leserin der Ingrid Babendererde. Sie stand damals am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere, die in Rostock begann und die sie über Oslo, Ankara und die USA in die Schweiz führen würde. Das erste persönliche Zusammentreffen datiert auf das Jahr 1953, genauer auf einen Montagabend im September. Im Anschluß an Hildegard Emmels Spezialseminar Goethe als Rezensent findet sich der Student Johnson, es ist kurz nach acht Uhr abends, vor dem »Professoren-Zimmer« des Rostocker Germanistik-Seminars ein. Linkisch, aber auch bestimmt und mit bemüht tadellosen Formen, in merkwürdig immergleichem Rhythmus sprechend, steht ein sehr junger Dichter vor einer wenig älteren Literatur-Lehrerin:

      Es war einmal ein 19jähriger Student. Er hatte eine Novelle geschrieben. Diese Novelle musste mit der Schreibmaschine geschrieben werden und zu diesem Zweck musste sie in eine andere Stadt geschickt werden.

      Es handelte sich um einen schreibmaschinegeschriebenen Text, offenbar in Güstrow abgetippt, der dreißig bis vierzig Seiten umfaßte.

      Der Student wünschte sich, von der Lehrkraft als Autor entdeckt, »erkannt« zu werden. Johnson drang geradezu auf die Beurteilung des Textes durch Hildegard Emmel: Wenige Wochen später erschien er, das Urteil einzufordern. Die erklärte, es sei unmöglich, zu sagen, ob aus dem Autor dieser Novelle einmal ein bedeutender Schriftsteller werden könnte, mochte dies andererseits aber auch nicht ausschließen. Johnson mag dennoch nicht unzufrieden gewesen sein. Zielte sein Interesse doch, wie von Hildegard Emmel selbst angenommen, in gleichem Maße auf die Person der Lehrerin wie auf deren literarische Beurteilung. Zudem muß Uwe Johnson damals ein weiteres literaturwissenschaftliches Arbeiten als mögliche Berufsperspektive erwogen haben. Hier konnte die Dozentin ihm womöglich hilfreich sein.

      Johnson legte die Zwischenprüfung bei Hildegard Emmel ab. Vor die freie Figurenwahl in Goethes Wilhelm Meister gestellt, entschied er sich bei dieser Gelegenheit für die »schöne Seele«, das Fräulein von Klettenberg. Ganze Passagen der Wahlverwandtschaften wußte er auswendig herzusagen. Auf die Vorbereitung zu dieser Prüfung geht denn auch seine habituelle Vertrautheit mit dem Goetheschen Text zurück, dessen Ottilie er mehrfach noch in seinem späteren Werk herbeizitieren wird. Auch mit Eduard Mörikes Texten, dessen Orplid-Lied die Mutmassungen anklingen lassen, wurde der Student womöglich bei Hildegard Emmel bekannt, die sich im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit dem schwäbischen Dichter beschäftigt hatte. Nach abgelegtem Examen in Leipzig, 1956 dann, hat Uwe Johnson die Lehrerin eindringlich und durchaus in der Hoffnung auf eine Zusammenarbeit nach den Möglichkeiten einer Assistenz befragt. Doch Hildegard Emmel hatte sich bereits für einen anderen Kandidaten entschieden. Der Leipziger Praktikant und Student Johnson hatte seiner Professorin im Sommer und Herbst 1954 eine Flut persönlicher Briefe geschrieben. Hildegard Emmel sah diese Briefe als Liebesbriefe an und ließ sie unbeantwortet, hat sie später in einem Akt der Diskretion vernichtet. Beachtlich erscheint immerhin, daß seine Beziehung zum »Waldgesicht« den Studenten keineswegs daran hinderte, diese Briefe zu verfassen. Solche gelegentliche bohemienhafte Lockerkeit ist bemerkenswert an einem Mann, der später die Ausschließlichkeit der Zweierbeziehung in geradezu fundamentalistischer Unbedingtheit proklamieren sollte.

      Hildegard Emmel und Uwe Johnson sind einander später nicht mehr begegnet. Zwar nahm Uwe Johnson in den Jahren 1967/68, als beide sich zufällig in den USA aufhielten, den Kontakt wieder auf. Ein Treffen scheiterte jedoch an der allzu zeitraubenden Postzustellung. Hildegard Emmel meint mit Bestimmtheit, daß Johnson in Rostock von der Staatssicherheit überwacht wurde. Beide seien sie bei ihren Spaziergängen in der Nähe der Rostocker Universität von der »Firma« beobachtet worden. Außerdem saßen, wie bereits erwähnt, auch im Germanistik-Seminar zwei, die man der Spitzeltätigkeit verdächtigte. In diesem Sinn erweisen sich »Mesewinkel« und »Fabian«, so nennt sich der Hauptmann des SSD Rohlfs in den Mutmassungen zuweilen, als Rostocker Autochthone.

      DER STUDENT ALS MARXIST.

       ZWISCHENPRÜFUNG IN LEIPZIG

      Auch die zweite Zwischenprüfung vom 21. September 1954, der Student stand unmittelbar vor seinem Wechsel nach Leipzig, wurde mit Bravour bewältigt. Johnson schloß sein zweites Studienjahr mit einem »Sehr Gut« in fast allen Fächern ab. Lediglich was die Hpt.-Probleme der dtsch. Wortbildungs- und Satzlehre betraf, reichte es nur zum »Gut«.

      Im letzten Rostocker Semester hatte der Kommilitone Johnson eine Seminargruppe ausgerechnet zu Stalins Text Neue Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR geleitet. Am 15. April 1954 schließlich schrieb er seine – erhaltene und in Entwöhnung von einem Arbeitsplatz publizierte – Zwischenprüfungs-Klausur in Marxismus-Leninismus: Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

      Diese Klausur liegt, und das ist wert, bedacht zu werden, zeitlich nach Johnsons spektakulärem Auftritt anläßlich der Verfolgung von Mitgliedern der »Jungen Gemeinde«. Allenfalls indirekt ist der dabei markierte Bruch. Der Student spielte vielmehr »business as usual«. Ging mit hoher interpretatorischer Intelligenz seinen Gegenstand an. Und sprachlich, in der Souveränität der teilweise exquisiten Formulierungen, auf beinahe schon schriftstellerischem Niveau. Hier schrieb einer, dessen ideologische Linie, gemessen an der rechten Lehre der damaligen DDR, fast als »linksradikal« begriffen werden könnte. Johnson forderte nämlich, und das galt seit dem Stalinschen »Sieg des Sozialismus in einem Land« als große Trotzkistische Abweichung, die Internationalität der Revolution. Zudem die Bewaffnung des ganzen Volkes, die utopisch gedachte Überführung des Staates in einen Verwalter bloß noch von Sachen und Produktionsprozessen. Johnsons Konzept in dieser Klausur zielte, so scheint es, auf alles andere als die Einführung des Sozialismus auf Filzsohlen ab, wie sie seit dem 17. Juni von der verunsicherten Führung der DDR propagiert wurde. Hier schrieb bereits der Autor der Babendererde, der die Republik verbessern wollte.

      Auch wenn sich der Student am Ende salvatorisch auf den Realpolitiker Lenin beruft, so erscheint sein Konzept doch als eines, das wesentlich utopisch-sozialistisch ausgerichtet war. (Johnsons Kritik des »Revisionismus«, man kann diese so auch bei Brecht finden, mit eingeschlossen.) Der »marxistische« Student Johnson kritisierte im übrigen die Bürokratie in der Sprache des jungen Marx, der sich ja noch an junghegelianischer Religionskritik orientierte. So, wenn er die »isolierte Heiligkeit« der Bürokratie als »Scheinheiligkeit« und weiterhin durch die Feststellung entlarvte, daß der »Verwaltungsaufwand in seinen