Uwe Johnson war auf beiden Seiten des zweigeteilten Deutschland eine wohlbekannte Gröβe. Der Professor Hans Mayer hat, nachdem auch er den Staat wechseln musste, zum Andenken seines ehemaligen Leipziger Schülers im „Westen“ das Seine beigetragen. In der vorgelegten Neuauflage der Johnson-Biographie spiegelt sich denn auch das fortgesetzte Interesse an einem Autor, der bis heute als der bedeutendste Autor der beiden Deutschland begriffen werden muss. Im Jubiläumsjahr wird ein umfangreiches Buch wieder vorgelegt, dessen „Seele“ darin bestehen mag, dass es ausführlich dokumentiert. Dass es zusammenfasst, was einst an nachgelassenem Material im Frankfurter Suhrkamp-Verlag und im dortigen Archiv örtlich vereint lag, zu Zeiten, als der Verlag noch der des Siegfried Unseld gewesen ist, dessen Verlegerfreundschaft mit dem Autor Johnson diese Biographie an zentraler Stelle beschreibt. Hier haben sich Veränderungen ergeben. Inzwischen liegt das Material an anderen Orten, nachdem der Verlag vor seinem Umzug nach Berlin die nachgelassenen Papiere Johnsons nicht, wie es einzig angezeigt gewesen wäre, dem Literaturarchiv in Marbach vermacht hat. Das Archivmaterial (das Siegfried Unseld einst vom Autor Johnson als Erbe übermacht worden ist!) ging vielmehr in Privatbesitz über und von dort an das heutige Johnson-Archiv an der Universität Rostock.
Insofern hat die breite „dokumentarische“ Anlage der Biographie, ursprünglich zahlreichen noch nicht publizierten Briefwechseln geschuldet, nun einen zusätzlichen Sinn erlangt: In ihr gelangt zur Zusammenschau, was inzwischen verstreut aufbewahrt liegt. Und noch aus anderen Gründen scheint die „dokumentarische“ und „archivalische“ Grundanlage an ihrem rechten Platz. Sie passt nämlich in eine neue Zeit, die, wenn der in Pittsburgh lehrende Literaturwissenschaftler und Ideenhistoriker Jeffrey Williams Recht hat, das Archiv als heuristisches Prinzip neu entdeckt hat. Das geschah, so vermutet es Williams nicht ohne Gründe, nachdem die Ära der „Theorie“ in ihren Erscheinungsformen als „Postmoderne“ und als „Poststrukturalismus“ mitsamt von deren zentralem „Dekonstruktions“-Prinzip gründlich kollabiert ist. Nun aber könne, so meint Williams, die Ära des Archivs, des durch aufbewahrte und berücksichtigte Belege Verbürgten, in der Literaturwissenschaft erneut beginnen. Dies gehe mit einer Neuentdeckung und geradezu Emphatisierung der philologischen Arbeit am konkreten Material Hand in Hand, die auch die Texttreue als dominante Auslegungsinstanz neu konstituiert habe. Das Verlangen nach dem Konkreten und Anschaulichen ergänze sich mit einer erneut durchgesetzten Hochschätzung von Erinnerungsarbeit und Erinnerungskultur im Gefolge der Theoriebildung von Jan und Aleida Assmann. Nun würde von einer am Spekulativ-„Theoretischen“ gründlich irregewordenen Generation das Nachgelassen-Konkrete im Rahmen von Biographien, als Geschichten über geschriebenes Leben, bevorzugt; ein Paradigma, das schon einmal seine Konjunktur besessen hat. Nämlich zu Zeiten des bedeutenden Präzeptors einer selbstreflektierten „Geisteswissenschaft“ Wilhelm Dilthey, der von der „unberechenbar wertvollen Bereicherung“ sprach, die man durch die Dichternachlässe und die Tage- und Merkbücher als Bausteine späterer Biographien besäβe. Einzig hier zeige sich noch die „pulsierende Handschrift des Dichters“, wie sie andererseits vor allem durch dessen Biographie zu bewahren sei.
„In der heutigen Rede vom `kulturellen Gedächtnis` … bleiben Goethes und Diltheys Ansprüche unausgesprochen bestehen“ (FAZ, 7.VIII. 2013, „Zerstörerische Mäuse und unwürdige Verwandte“). In diesem Sinne dient die dokumentarische Grundanlage dieser Biographie dem „kulturellen Gedächtnis“ des einst als „deutsch-deutschen Schriftsteller“ annoncierten Uwe Johnson. Der Autor wird kontextuell, immer in strengem Zusammenhang mit seiner Zeit und seinen Texten, vorgestellt. Dem kommt zugute, dass Johnson, wie alle Autoren der Moderne, im Stande eines zunehmenden Nachlassbewusstseins gearbeitet und gelebt hat. Dies sprach sich nicht nur in der Ernennung des Verlegers Siegfried Unseld zum Erben aus, sondern auch in der Entscheidung dieses Erben, dem Biographen Zugang zu allen Materialien, ungefiltert, zu gewähren. Das war auch eine Entscheidung gegen das Vergehen der Zeit, wie es ganz generell, als zentrales Movens, in der Epik des Uwe Johnson zugegen ist. Das gleiche Vergehen der Zeit bewirkt heute das Entstehen von Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit durch Nichtwiederholbarkeit: Viele von denen, die seinerzeit zu Konzentration und faktischer Fülle in dieser Biographie beigetragen haben, mit Auskünften über den Schüler, Studenten und Autor Uwe Johnson, sind nicht mehr am Leben. Sie sind dennoch unvermindert gegenwärtig dadurch, dass sie eine dauernde Erinnerungsarbeit möglich machten, die dem gesammelten Gedächtnis des Erinnerungsschriftsteller Uwe Johnson dient, - es für die Zukunft am Leben zu hält.
Trondheim, im September 2013
VORWORT
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»MAN HAT KEIN ANDERES MATERIAL
ALS SEINE ERFAHRUNG«
Plutarchs Parallelbiographien machten den Philosophen zum meistgelesenen Autor der Antike. Für ihn war das Genre der Biographie Teil der Geschichtsschreibung, nicht der Literatur. Er band die 22 Biographie-Paare je eines römischen und eines griechischen Staatsmannes oder Feldherren zusammen, um Austausch und Anerkennung zwischen den beiden dominierenden Kulturen des Abendlandes zu erzielen. Es faszinierte – und fasziniert noch heute – die Konfrontation zweier Kulturen, auch die wechselseitige Transformation von Geist in Macht und von Praxis in Theorie.
Uwe Johnsons literarische Biographie fügt sich, so gesehen, ein in eine lange Tradition: Erscheint sie doch, spätestens mit den Jahrestagen, ihrerseits als beschreibende Durchdringung von Alter und Neuer Welt, Güstrow und New York, von norddeutscher Seelentiefe und dem Pragmatismus des »American Way of Life«, Gesine Cresspahl und Dietrich Erichson, genannt D. E. Vom noch pantheistisch angelegten Erstling Ingrid Babendererde zum modernen Großstadtepos der Jahrestage – Johnsons Werk ist immer auch eine Konfrontation der Epochen deutscher Geschichte und eine Parabel der Entwicklung beider deutscher Nachkriegsstaaten.
Johnson selbst hat sich in der »biographischen Frage« keineswegs konsequent geäußert oder verhalten. Erst spät begann er, nach ablehnenden Äußerungen noch in den Begleitumständen, im vierten Band der Jahrestage und in der Skizze eines Verunglückten ein Stück weit in eigener biographischer Sache zu schreiben, verkörpert in der Figur des Schülers Lockenvitz und der des Joachim de Catt als archetypischen Opfern beider deutscher Totalitarismen dieses Jahrhunderts.
Als absehbar wurde, daß er sein Werk vollenden würde, schrieb Uwe Johnson von Sheerness aus in Briefen an seinen Verleger sogar Prinzipielles über die Wünschbarkeit von Biographien.
»Dabei fiel mir auf, dass sie für die deutschsprachige Gegend fehlen, diese umfangreichen Biographien angelsächsischer Art, in denen das Nachweisbare stimmt und das Zweifelhafte dem Entschluss des Lesers überlassen wird. Du hast mir einmal ein Muster für diese Art des Lebensberichtes geschenkt: das Buch von Ellmann über Joyce.
Etwas von dieser Art wünschte ich mir im Grunde auch über Benn, Brecht, Hesse, Musil, Rilke, Schmidt. Es ist wahr, noch versteht sich im Deutschen kaum jemand auf solche positivistische Biographie. Aber vielleicht kann man sie bei uns vorbereiten, indem man zunächst solche Bücher in deutscher Sprache vorstellt wie das von Bair über Beckett, Turnbull über Fitzgerald, Blotner über Faulkner, Baker über Hemingway.«
Biographien also akzeptierte, ja wünschte Uwe Johnson bei Erfüllung ganz bestimmter Voraussetzungen nicht zuletzt formal-ästhetischer Art.
Im Vorfeld des letzten Paradigmenwechsels, »Postmoderne« genannt, hat sich biographisch und autobiographisch durchgesetzt,