Das Thema „Clique“ hat mich lange beschäftigt. Eine Bekannte sagte: „Du wirst sehen, die wollen dich nicht mehr. Die Frauen haben Angst, du machst dich an ihre Männer ran.“ Obwohl das unglaublich bescheuert war und mir nie danach gewesen ist, empfinden manche Frauen wohl wirklich Eifersucht. Die Ex-Freundin von Franz hat mich auch gemieden. An Geburtstagen und anderen Festen traf ich alle wieder. Manchmal musste ich einfach anfangen zu weinen, und mitlachen konnte ich auch oft nicht. Wenn eine Frau über ihren Mann herzog, dann dachte ich: „Sei doch froh, dass du ihn hast!“ Es kam vor, dass ich wieder schnell nach Hause ging, weil ich es nicht mehr aushielt. Es gab aber niemanden, der mir gefolgt wäre und nachgefragt hätte, was los ist. Heute habe ich weniger Freunde als früher, aber dafür sind es wirkliche Freunde. Durch Franz habe ich auch einige dazu gewonnen. Franz war, wie schon gesagt, einer aus der Clique, der sich sehr um mich gekümmert hat. Vielleicht war es für ihn auch eine Möglichkeit, die Sache zu verarbeiten, er war ja beim Unfall dabei gewesen; wir haben viel darüber und über Gerd, die Vergangenheit mit ihm geredet – und wir haben auch zusammen geweint. Vielleicht hat uns das einander nähergebracht.
Es hat Jahre gebraucht, bis ich den Eindruck hatte, ich bin wieder im Hier und Jetzt. Bis dahin hatte ich das Gefühl: Die Welt dreht sich weiter, aber meine bleibt stehen. Ich kam einfach nicht zurecht. Früher habe ich aktiv am Vereinsleben teilgenommen. Auf der Fasnacht trat ich auf, ging auf die Bühne – ob Singen, Sprechen, Tanzen, das hat mir immer viel Spaß gemacht. Aber damit war es vorbei. Bis heute. Ich weiß noch, wie es war, als ich ein halbes Jahr nach Gerds Tod aus der Reha zurückkam. Als ich die Frauen auf der Bühne sah, mit denen ich sonst immer aufgetreten war, dachte ich: „Was treiben die denn da bloß? Sie machen sich doch so lächerlich!“ Ich kann damit nichts mehr anfangen. Gewisse Dinge tun mir nicht gut. Da bleibe ich lieber daheim.
Wenige Monate nach dem Unfall beschloss ich, neue Vorhänge anzuschaffen. Als die dann hingen, dachte ich: „Sieht das schön aus!“ Mir wurde bewusst, wie gut mir die Veränderung tat. Da kam endlich wieder Freude in mir auf. Nach einem Jahr veränderte ich das Schlafzimmer, nach und nach gestaltete ich vieles um. So habe ich gemerkt, dass das Haus immer mehr zu „meinem“ wurde. Mein Mann war eher konservativ in dieser Beziehung: „Ach ne, das braucht man doch nicht.“ Vielleicht konnte ich mich darin früher nicht so richtig verwirklichen. Das ist ein positiver Aspekt, der mir auffällt. Außerdem war ich das Alleinsein nicht gewohnt. Ich war vierzehn, als ich Gerd kennenlernte, und mit achtzehn wurde ich schwanger. Ich war immer für die Familie da, für den Haushalt, das Geschäft. Ich habe meinem Mann den Rücken freigehalten. Für die Vereine, seine und meine, ich habe genäht, dann kam das Motorradfahren … Ich habe gelernt, mich mit allem zu beschäftigen. Aber nie so richtig mit mir. Das musste ich nun gezwungenermaßen. Damit kam ich zu Beginn gar nicht klar. Wie ein Tiger im Käfig lief ich durchs Haus. Was sollte ich mit mir anfangen? Ich musste erst einmal mich kennenlernen!
Im Januar kam ich zur Trauerbewältigung in eine psychosomatische Reha – das war meine allererste Reise allein. In meinem ganzen Leben war ich noch nie allein verreist! Als ich nach sechs Wochen zurückkam, sagten alle, dass ich anders aussehe. Mein sturer Blick war weg. Durch den Abstand war ich wieder entspannter. Dort habe ich das Malen angefangen, das hat mir geholfen. Ich kann in den Bildern meine Gefühle ausdrücken, und es entspannt mich. Wenn dann noch etwas Schönes dabei herauskommt, ist es auch für das Selbstwertgefühl gut. Mittlerweile habe ich im ganzen Haus Bilder von mir hängen.
Ich werde nie den Tag vergessen, als mir bewusst wurde, dass ich das erste Mal meinen eigenen Lebensunterhalt verdienen kann: ein super Gefühl! Ich habe zwar auch vorher gearbeitet, aber das war immer nur ein Zubrot.
Mit einer guten Freundin fuhr ich mal auf Wellnessurlaub. Bei einer Massage sprach ich mit dem Therapeuten, und der sagte: „Sind Sie mit Ihrem Mann da?“ „Nein, leider nicht …“ Und ich erzählte ihm ein wenig von meiner Situation. Nach der Massage meinte er, ich solle die Augen zumachen und noch liegenbleiben. Da hatte ich das Gefühl, er lässt Sandkörner über mein Gesicht rieseln – das war ganz seltsam. Später sagte er mir, er habe mir Reiki gegeben. Nach dem Wellnesswochenende hatte ich eine solche Energie – ich frage mich heute noch, wie ich das mit der Küchenrenovierung geschafft habe! Das ganze Handwerkliche habe ich gemacht: Ausmalen, Tapezieren, Fliesen verlegen … Auch im Keller, wo die Werkstatt war. Manchmal denke ich: „Wenn Gerd das nur sehen könnte!“
Natürlich unterstützt Franz mich bei allem. Nach ungefähr zweieinhalb Jahren kamen Franz und ich als Paar zusammen. Ich habe ihn vorher schon lange gekannt. Als es zwischen uns „anders“ wurde, habe ich zuerst ziemlich mit mir gekämpft: „Darfst du das überhaupt? Oder ist es zu früh? Was sagen die Schwiegereltern? Die Kinder?“ Wenn wir irgendwo hingingen, traute ich mich nicht seine Hand halten. Ich konnte die Beziehung nicht richtig zulassen. Auf der einen Seite wollte ich es, aber immer tauchte die Frage auf: „Darf ich das?“ Diese umgekehrte Rolle – wenn ich nun meiner Tochter sage, dass ich einen Freund habe –, die war schon seltsam. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind. Als ich dann meinen Kindern von der neuen Partnerschaft erzählte, haben sie ganz toll reagiert, während hingegen der erste Satz meiner Mutter lautete: „Hach, oje. Und der Gerd?“ Vielleicht wollte sie aber eher sagen: „Oje, was sagen denn die Leute?“ Sie lebt auf dem Land und ist noch vom „alten Schlag“.
Ich bin zu allen hingegangen, auch zu Gerds Schwestern und meinen Schwiegereltern, und habe es ihnen persönlich gesagt. Gerds Schwester hat mich in den Arm genommen und sich gefreut – das war so schön für mich! Von niemandem kam eine negative Reaktion. Es ist ja so: Sitzt man zu Hause und es geht einem schlecht, dann sagen die Leute: „Arme Frau. Warum geht sie nicht raus? Wenn sie doch nur wieder einen Partner hätte!“ Macht sie dann genau das, dann sagen die Leute: „Wie, die geht schon wieder aus? Sie hat schon wieder einen Partner? Ja, geht’s noch!“ Aber muss ich den Leuten etwas recht machen? Wo waren sie denn alle, als es mir schlecht ging? Ich habe inzwischen gelernt, mein Wohlbefinden nicht von anderen abhängig zu machen.
Ich würde nie wieder mit dem Motorrad fahren. Wenn ich heutzutage einen Biker sehe, dann wünsche ich ihm innerlich eine gute Fahrt. Mittlerweile überwiegt in der Erinnerung die schöne Zeit. Wir waren eine tolle Clique und hatten viel Spaß zusammen, wir haben wunderbare Kurzurlaube verbracht. Leider hat der letzte tragisch geendet. Gerd hat das Motorradfahren geliebt, er hat immer viel gearbeitet und beim Fahren konnte er entspannen. Südtirol war seine zweite Heimat. So war es ihm wenigstens vergönnt, bei der Ausübung seines liebsten Hobbys zu gehen, während andere krank im Bett liegen und vor sich hinsiechen. Das kann ich mittlerweile sogar positiv sehen.
Ich bin überzeugt, dass es dort, wo wir nach dem Sterben hinkommen, schön ist. Ich bin mir auch sicher, dass es Gerd gutgeht, wo er nun ist, und dass das uns allen bevorsteht. Die Angst vor dem Tod habe ich verloren. Vor dem Unfall habe ich keinen richtigen Glauben gehabt, ich dachte eher, dass es nach dem Tod nichts mehr gibt. Das hat sich vollkommen geändert. Ob es stimmt, was ich mir denke, oder nicht – das ist eigentlich nicht so wichtig, solange es mir guttut. Ich glaube, die Lebenszeit von jedem ist vorherbestimmt, und Gerds Zeit war vorbei.
Ich wünsche mir sehr, dass sich der Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft ändert. Schon im Kindergarten sollten die Kinder spielerisch lernen, dass er zu unserem Leben dazu gehört; dann würden vielleicht manche Probleme im Umgang mit ihm gar nicht erst aufkommen. Denn schließlich trifft es früher oder später jeden. Wenn man sich vorstellt, dass es hinterher etwas Schönes gibt, dann ist es auch leichter, den Tod zu akzeptieren – für den, der geht, und für die, die zurückbleiben.
Wenn man in die Situation kommt, den Partner verloren zu haben, sollte man sich auf sich konzentrieren und fragen, was einem guttut, egal, was es ist. Innere Verbote wie: „Das kann ich nicht, das darf ich nicht“ sollte man weglassen. Ich hatte nach Gerds Tod zwei, drei Monate lang eine psychologische Betreuung, die hilfreich war. Mit den Menschen, die im weiteren Bekanntenkreis schon einmal einen Schicksalsschlag erleben mussten, konnte