Paul hingegen war es nicht entgangen, dass Stefanies Alibi den Eltern mindestens ebensolche Sorgen machte, wie eines Mordes verdächtigt zu werden. Aber das war eine andere Geschichte.
»Sie bestehen also darauf, dass alle in der fraglichen Zeit in Ihren Betten waren.« Paul sah der Familie fest in die Gesichter.
»Darauf bestehen wir allerdings!« Martin Burkhardt blickte von einem zum andern. Alle nickten.
Bis auf eine.
»Ich nicht!«, verkündete Gertrud und verschränkte die Arme. »Ich war Gassi!«
Nun richtete Paul seine ganze Aufmerksamkeit auf Gertrud. »Mit dem Hund?«
»Na klar mit dem Hund. Oder glauben Sie, ich hab zu Hause keine Toilette?«
»Besitzen Sie einen Hund?«
»Ich selber nicht, aber meine Nachbarin ist krank und die hat mich gefragt, ob ich solange mit ihrer Dackeldame Daisy Gassi gehen mag. Und ich hab natürlich ja gesagt, denn ich bin sowieso eine Frühaufsteherin. Morgenstund‘ hat Gold im Mund, ist Ihnen das nicht bekannt? Ich steh mit den Hühnern auf und geh mit den Hühnern ins Bett, normalerweise …«
»Da Sie, wie es scheint, mit offenen Augen durch die Welt gehen«, unterbrach Paul sie, um einen freundlichen Ton bemüht, »darf ich fragen, ob Ihnen jemand aufgefallen ist, der sich in der fraglichen Zeit um Herrn Wallners Haus herumgetrieben hat?«
»Ja. Ist mir«, antwortete Gertrud zum allgemeinen Erstaunen.
»Und wer?«
»Dieser Mensch, der auf Nummer 98 wohnt. Gleich bei mir in der Nähe. Der radikale Tierschützer.«
Paul machte sich eine Notiz. »Um wie viel Uhr war das?«
»Kurz nach fünf.«
»Ich glaube, den kenn ich auch!«, rief Stefanie. »Radikal ist der aber nicht, Gertrud. Da kennen Sie keine wirklich Radikalen!«
»Wieso haben Sie das nicht früher gesagt?«, fuhr Martin Burkhardt Gertrud an. »Dann hätten wir uns diese Sitzung hier ersparen können.«
Beleidigt maß Gertrud ihn von oben bis unten. »Es hat mich ja keiner danach gefragt! Außerdem hab ich keinen Zusammenhang gesehen. Ich kann doch nicht jeden verdächtigen, der zeitig in der Früh auf der Straße ist. Vielleicht wollte er ja mit dem Bus zur Arbeit fahren. Der erste geht so um viertel nach fünf, das weiß ich zufällig.«
Abweisend verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Da will man der Polizei helfen und als Dankeschön wird man zusammengeschissen!«
»Entschuldigen Sie, Gertrud«, bat Martin Burkhardt zerknirscht. »Ich wollte Sie keinesfalls beleidigen …« Wenn er jetzt nicht klein beigab, würde sich das hier noch endlos hinziehen.
Gertrud schniefte. »Ist schon gut, ich weiß ja selber, dass ich ein bissel ang‘rührt bin.«
»Frau Klampfl«, machte Paul sie aufmerksam, »um fünf in der Früh ist noch stockdunkle Nacht. Sind Sie sicher …?«
Gertrud schnaubte. »Ich bin zwar nicht mehr die Jüngste, aber blind bin ich deswegen noch nicht! Den kenn ich, das ist ein Aktivist. Dem sieht man den Anarcho schon aus hundert Metern Entfernung an!«
Paul ließ die Augen von einem zum andern wandern. Immerhin hatte er mit dem Tierschützer von Nummer 98 jetzt einen Hinweis. Dass die Familie Burkhardt, inklusive eines ungebetenen Gastes, in ihren Betten lag, musste er wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, war um diese Uhrzeit auch nicht so ungewöhnlich.
Carla, die zu Aufklärung des Mordes am alten Wallner ebenfalls beitragen wollte, schon allein deswegen, damit die Familie so rasch wie möglich aus der Schusslinie kam, machte den Inspektor auf Christoph Wallner aufmerksam, den Sohn des Toten.
»Vielleicht kann er Ihnen etwas zum Tod seines Vaters sagen«, schlug sie vor. »Welchen Umgang er pflegte, von dem vielleicht niemand sonst wusste, ob er Feinde hatte und so weiter … Wir wissen nur, dass der Junior vor fünf oder sechs Jahren von zu Hause ausgezogen ist und seinen Vater höchstens zweimal im Jahr besucht hat.«
»Den Sohn werden wir selbstverständlich über das Ableben seines Vaters in Kenntnis setzen«, antwortete Paul. »Aber nett, dass Sie mir den Tipp geben.« Er schmunzelte.
Carla rutschte auf ihrem Sessel herum, nicht sicher, ob der Inspektor sich über sie lustig machte, oder es ernst meinte.
Paul wandte sich wieder Martin Burkhardt zu. »Wann verlassen Sie eigentlich das Haus?«
Zwischen Martins Brauen bildete sich eine steile Falte. »Ich fahre Punkt sechs Uhr von zu Hause weg«, antwortete er beherrscht, »wegen des Frühverkehrs nach Wien. Später ist kein Weiterkommen möglich.«
»Und Ihnen ist um diese Uhrzeit nichts aufgefallen am Haus schräg gegenüber?«
»Nein, gar nichts. Ich fahre aus der Garage und achte nur noch auf die Straße.«
Paul drehte den Kopf leicht zur Seite. »Und Sie?«
Tobias ließ unauffällig die Hand mit dem Smartphone unterm Tisch verschwinden. »Äh, also je nachdem, wann meine Vorlesung beginnt. Manchmal um halb acht, manchmal um neun …«
»Manchmal gar nicht«, höhnte seine Schwester und erntete einen Blick, wie sie nur genervte ältere Brüder draufhaben.
Stumm blickte Paul Carla an.
»Also ich«, begann Carla, »ich verlasse das Haus so gegen acht, manchmal arbeite ich aber auch von zu Hause aus. Ich bin nicht täglich im Verlag.«
»Sie arbeiten in einem Verlag?«, fragte Paul interessiert.
»Ja, in der Innenstadt in Mödling.«
»Ich wollte immer schon ein Buch schreiben!«, gestand Paul und wurde gleich darauf ein wenig rot. »Ich habe sogar schon die ersten fünfzig Seiten fertig. Meinen Sie, Sie könnten sich mein Manuskript einmal ansehen?«
Um die Befragung abzukürzen, würde Carla fast alles tun. »Worüber schreiben Sie denn?«
»Ach, es ist kein Reißer, wenn Sie das denken.« Er grinste verlegen. »Ich schreibe über mein eigenes Leben, eine Autobiografie gewissermaßen. Hauptsächlich schreibe ich über meine Beobachtungen in Keltenberg …«
Stefanie verzog ironisch die Lippen. »Das wird sicher ein sehr kurzes Buch – bei Ihrem Alter.« Sie kicherte.
Paul ballte unter dem Tisch die Hände und kniff die Lippen zusammen.
»Schuster bleib bei deinen Leisten!«, gab nun auch Frau Klampfl ihren ganz und gar unnötigen Senf dazu, was mit einem ungehörigen Lacher von Stefanie quittiert wurde.
Mit einem tadelnden Blick in Richtung Tochter wandte sich Carla mit einer freundlichen Geste an den Inspektor. »Ich arbeite für einen Geschichtsverlag«, erklärte sie. »Aber ich könnte mir vorstellen, wenn Sie etwas über Keltenberg selbst schrieben, über seine Geschichte und seine Entwicklung bis hin zu einer modernen Gemeinde … dann könnte ich einmal einen Blick darauf werfen.«
Insgeheim plante sie schon mal fünfzehn Minuten fürs Querlesen ein, ehe sie ihm das Manuskript zurückgeben würde mit der Bemerkung: Herr Inspektor, eines schonmal vorweg – Sie haben Talent zum Schreiben! Für unseren Verlag eignet sich Ihr Manuskript jedoch leider nicht, aber schreiben Sie unbedingt weiter.
Paul bedankte sich höflich. »Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe machen wollen.«
Sie hatte kein wirkliches Interesse an seinem Manuskript, das spürte er sofort. Was anderes hatte er aber ohnehin nicht erwartet. Außerdem ähnelte sein Geschreibsel mehr einem Tagebuch als einer interessanten Lektüre, wie er vor sich selbst einräumte. Also machte er dort weiter, wo er sich auskannte, und begrub vorerst den Gedanken an eine Schriftstellerlaufbahn.
Es gab keine weiteren Fragen mehr, außerdem fand er, dass er sich