1) Funktionen, die sich auf die Übertragung von politischer Macht und die Zuweisung von Herrschafts- und Oppositionspositionen beziehen: Einem liberal-pluralistischen Demokratieverständnis zufolge vergibt der demos in demokratischen Wahlen einen verfassungsmäßig formulierten „Herrschaftsauftrag auf Zeit“, so ein geflügeltes Wort von Theodor Heuss, und überträgt damit zeitlich begrenzt politische Macht an die künftigen Herrschaftsträger. Demokratische Wahlen üben also die Funktion aus, politische Macht zu übertragen, und statten zu diesem Zweck – für gewöhnlich in Parteien oder Wählerbewegungen organisierte – Personen in Form von politischen Mandaten mit Herrschaftsbefugnissen aus. Dies gilt auch dann, wenn die in diesem Zusammenhang vielfach betonte Regierungsbildungsfunktion nur vermittelt zutage tritt.12 Bei demokratischen Wahlen wird jedoch nicht nur ein Herrschaftsauftrag vergeben, sondern auch das Parlament gewählt und die parlamentarische Opposition eingesetzt, welcher, normativ betrachtet, insbesondere die Aufgabe zukommt, die politische Herrschaftsausübung zu kontrollieren und sich für einen Machtwechsel bereitzuhalten.
2) Eng mit der Übertragung politischer Herrschaftsbefugnisse in Verbindung steht die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen. Mittels Wahlen wird die Ausübung politischer Herrschaft zeitlich begrenzt legitimiert. Indem die Wählerschaft in freien und fairen Wahlen ihre Regierung bzw. ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten bestätigt oder neu bestellt, kommt in Wahlen entweder ein Konsens (der im schwachen Sinne auch das Akzeptieren bzw. Dulden umfasst) oder ein Dissens bezüglich der Herrschenden und deren Politik zum Ausdruck. Die Legitimationsfunktion demokratischer Wahlen bezieht sich dabei vornehmlich auf die Inhaber der über Wahlen direkt oder indirekt vergebenen politischen Mandate. Eine demokratisch gewählte Regierung gilt, bei aller oft berechtigten Kritik an Politikstil und Politikinhalten, weithin als legitim ins Amt gebracht. Die Legitimationskraft umfasst aber, normativ betrachtet, auch die Opposition. Gerade in der vollen Anerkennung der Opposition liegt eine Besonderheit wirklich kompetitiver Wahlen. Nicht von ungefähr wird in Großbritannien die Opposition traditionell als „Her Majesty’s Most Loyal Opposition“ bezeichnet. Dabei legitimieren demokratische Wahlen nicht nur die Träger, sondern auch das Prinzip politischer Opposition – und zwar sowohl in abstracto als auch in seiner konkreten organisatorisch-rechtlichen Ausformung, die sich u. a. in der Gewährung politischer Rechte auch für die Opposition ausdrückt. In diesem Sinne können Wahlen auch die Legitimität der politischen Ordnung samt ihrer „Spielregeln“ bestärken oder infrage stellen, je nachdem, ob die mit demokratischen Wahlen verbundenen Verfahrensregeln akzeptiert oder abgelehnt werden. Sofern die Wahlen demokratisch sind, kommt in ihnen eben auch ein Verfahrenskonsens zum Ausdruck, der die Rechte der politischen Minderheit umfasst. Zudem können Wahlen die Legitimität der im Wahlakt umfassten politischen Gemeinschaft stärken.13 Beispielsweise haben die ersten allgemeinen und freien Wahlen in der Republik Südafrika im Jahr 1994, trotz aller Spannungen vor den Wahlen, vorübergehend zur nationalen Einheit in der Post-Apartheid-Ära beigetragen, selbst wenn es dort später nicht wirklich zur Herausbildung der angestrebten „Regenbogennation“ gekommen ist.
3) Funktionen, die sich auf die Repräsentation der vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen, Ansichten und Interessen beziehen: Während „Regierungen der nationalen Einheit“, welche die maßgeblichen politischen Kräfte eines Lands einbinden, selten sind und meist nur in Post-Konfliktsituationen vorkommen, sollen vor allem die gewählten Parlamente die gesellschaftliche Vielfalt repräsentieren und diese im parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess angemessen berücksichtigen.14 Eine hinreichende politische, soziale und territoriale Repräsentation im Parlament ist daher ein wichtiges Ziel demokratischer Wahlen, ohne dass dadurch jedoch die Bildung stabiler Regierungsmehrheiten im Parlament verunmöglicht werden soll. Dabei geht es nicht nur um eine – vom Wahlsystem abhängige – mehr oder minder proportionale Mandatsvergabe an die politischen Parteien, die deren Stimmenanteil in der Wählerschaft entspricht (die freilich in Mehrheitswahlsystemen zugunsten der Bildung von Regierungsmehrheiten gezielt eingeschränkt wird). Wichtig sind ebenso eine balanced gender representation oder eine angemessene Vertretung gesellschaftlicher Minderheiten oder unterschiedlicher Regionen im Parlament. Angesichts des hohen Altersdurchschnitts von Parlamenten wird inzwischen verstärkt auch eine stärkere Repräsentation von jungen Menschen im Parlament gefordert. Soll eine solche angemessene Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gewährleistet werden, dann ist nach den vielfältigen Bedingungen zu fragen, unter denen kandidierende Personen antreten, aufgestellt und gewählt werden.15
4) Funktionen, die sich auf die Gestaltung politischer Inhalte und Alternativen beziehen: Einem liberal-repräsentativen Demokratieverständnis zufolge ist die Wahl streng genommen keine inhaltliche Entscheidung, sondern eine Auswahl zwischen Personen. Wahlen entscheiden nicht primär über Sachprobleme, sondern darüber, wer die Sachprobleme entscheidet. In diesem Sinne stellt der demokratische Wahlakt zuvorderst eine Übertragung von Vertrauen an Personen oder Parteien dar. Gleichwohl kommen bei der Wahlentscheidung inhaltliche und programmatische Präferenzen zum Tragen. Personen und Parteien, die sich zur Wahl stellen, stehen oft für bestimmte politische Positionen, Programme und Ziele, repräsentieren bestimmte Ansichten und Interessen der Wählerschaft. Soweit Wahlen also einen Konkurrenzkampf um politische Herrschaft auf Grundlage alternativer Sachprogramme darstellen (was nicht immer der Fall ist), haben die Wahlberechtigten die Möglichkeit, mit ihrer Wahlentscheidung zumindest die grundlegende inhaltliche Ausrichtung der Regierungspolitik mitzubestimmen. Dabei handelt es sich für gewöhnlich aber eher um ein allgemeines als um ein konkretes inhaltliches Mandat. Zugleich kann von Wahlen eine die Regierung begleitende Korrektivfunktion ausgehen. Da die Herrschaft nur auf Zeit verliehen und unter demokratischen Wettbewerbsbedingungen regelmäßig wieder zur Disposition gestellt wird, sind die Regierenden – ebenso wie die Opposition als ihre Herausforderer – dazu angehalten, die Ansichten und Interessen des Wahlvolks angemessen zu berücksichtigen. Prospektiv werden bei Wahlen politische Erwartungen an die gewählten Amtsinhaber gestellt und retrospektiv wird bei Wahlen ihre Leistung bewertet.16 Ziel ist dabei eine „Regierung, die auf die öffentliche Meinung hört und ihr verpflichtet ist“.17 Es geht bei demokratischen Wahlen also um elektorale Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht. Dabei bezieht sich die Rechenschaftspflicht letztlich auf das gesamte Wahlvolk und nicht etwa nur auf die Unterstützerinnen und Unterstützer der Regierenden.
Aus Sicht eines liberal-pluralistischen Demokratieverständnisses bestimmen die vier Funktionskomplexe maßgeblich den allgemeinen Funktionsgehalt demokratischer Wahlen. Dabei kommt den Wahlen in liberalen Demokratien bereits insofern große Bedeutung zu, als sie – ebenso wie Volksabstimmungen – eine Form der politischen Mitwirkung darstellen, welche grundsätzlich die gesamte Wählerschaft einbezieht. Auch ist die Durchführung demokratischer Wahlen bereits definitorisch mit weiteren politischen Mitwirkungswirkungsmöglichkeiten im engeren oder weiteren Umfeld der Wahlen verbunden: von Wahlkampfaktivitäten, Wahlkandidaturen und allgemein der aktiven Mitwirkung in Parteien und Wählerinitiativen bis hin zur Nutzung einschlägiger politischer Rechte wie Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Pressefreiheit. Ohne diese sind demokratische Wahlen gar nicht möglich. Daher hängt der demokratische Gehalt von Wahlen eng mit den demokratischen Wesenszügen von Politik und Gesellschaft in einem Land zusammen. Dies rückt auch die abfällige Rede von reinen