Zugleich bieten Kindertageseinrichtungen und Schulen grundsätzlich gute Möglichkeiten, Kinder gezielt in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung zu unterstützen und im Sinne eines präventiven Vorgehens zumindest für einen Teil der Kinder (und ihrer Familien) neue Entwicklungsperspektiven aufzuzeigen und seelischen Störungen vorzubeugen (z. B. Fingerle & Grumm, 2012; Opp, 2007) – auch hier ist ein kompetentes, systematisches, mit Eltern und externen Diensten abgestimmtes Handeln der Fachkräfte in Kitas und Schulen nötig.
Dieses Buch hat das Ziel, die beschriebenen Bedarfe aufzugreifen und zumindest teilweise zu ›beantworten‹. Zuvor ist jedoch eine Begriffsklärung nötig:
Verhaltensweisen von Kindern (und Erwachsenen) werden immer in Relation zu einer sozialen Norm gesetzt: Wenn ein Kind zu Beginn des ersten Schuljahres noch nicht in der Lage ist, eine Schulstunde lang, also 45 Minuten, still an seinem Platz sitzenzubleiben, so liegt dies im Rahmen der erwarteten Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes, es liegt nicht ›außerhalb‹ der Norm – in diesem Fall der Norm-Vorstellungen der Lehrkräfte. Wenn das Kind am Ende des ersten Schuljahres immer noch nicht 45 Minuten an seinem Platz sitzen bleiben kann, so verstößt es gegen diese Norm, es fällt ›auffällig‹ aus der Norm heraus. Diese Normen werden immer für soziale Gruppen definiert, von der Gruppe selbst oder denjenigen, die die Gruppe leiten. Es gibt eine Vielfalt dieser Normen, manchmal sind sie statistisch ›untermauert‹: So sind bspw. 95% der 10-jährigen Kinder in Deutschland zwischen 127 und 152 cm groß – ein Kind mit einer Größe von 120 oder 160 cm wäre ›unnormal‹ klein bzw. groß, es würde ›auffallen‹.1
Ein Kind, das häufig oder dauerhaft gegen Regeln oder Normen verstößt, wird dann als ›auffällig‹ beschrieben (zur Diskussion um die Normen vgl. ausführlich Fröhlich-Gildhoff, 2017, S. 15ff.). Dabei ist der Begriff der ›Auffälligkeit‹ oder ›Störung‹ immer eine Zuschreibung, eine Etikettierung. An einem plastischen Beispiel verdeutlicht Kriz diese Problematik von begrifflichen Zuschreibungen, wie ›Verhaltensstörung‹ oder ›Verhaltensauffälligkeiten‹:
»So wirkt ein Begriff, wie ›Verhaltensstörung‹ – […] ›Der kleine Hans hat eine Verhaltensstörung‹ – als Verdinglichung – eben ›ding‹-haft und damit statisch und festschreibend. Schon die Formulierung: ›Hans verhält sich gestört‹, lässt Fragen aufkommen wie: ›Wann?‹ Und: ›In welchem Zusammenhang?‹. Und deren nähere Erörterung führt zu einem komplexen Gefüge aus unterschiedlichen Situationen, in denen manches von Hans’ Störungen verständlich wird (als ›natürliche Reaktion‹ auf das aktuelle Verhalten seiner Schwester) oder in anderem Licht erscheint (als ›Signal für mehr Zuwendung‹ oder als ›Ablenken vom sich anbahnenden Streit von seinen Eltern‹)« (Kriz 2004, S. 61f.).
Das Konzept der ›Verhaltensauffälligkeit‹ verstellt den Blick auf die komplexe Vielfalt des Verhaltens und seiner Ursachen und schreibt diese einseitig dem Kind Hans zu.
Daher wird von den AutorInnen dieses Buches der Begriff des ›Herausfordernden Verhaltens‹ benutzt. Die AutorInnen gehen davon aus, dass in der pädagogischen Arbeit die Berücksichtigung des Kontextes, in dem das Verhalten deutlich wird, im Fokus liegt und von einer individuumzentrierten Betrachtungsweise der Auffälligkeit abgesehen werden sollte (s. a. Vernooij, 2000). Es geht letztlich um Verhaltensweisen eines Kindes, das für andere – zumeist für die Erwachsenen – eine (besondere) Herausforderung darstellt. Warum dieses Verhalten zur Herausforderung wird, liegt im Zusammenspiel der Beteiligten Kind(er) und Erwachsenen und den situativen (institutionellen) Rahmenbedingungen. Der Begriff ›Herausforderndes Verhalten‹ verweist auf eine systemische Sichtweise: Es ist nicht das Kind, das eine ›Auffälligkeit‹ zeigt, sondern in der Interaktion wird das Verhalten zur Herausforderung.
Zugleich soll nicht geleugnet werden, dass es bedeutsam ist, Kriterien zur Verfügung zu haben, um das Verhalten anderer beschreiben und z. B. mögliche Entwicklungsbesonderheiten oder -rückstände einschätzen zu können. Auf Bedeutung und Möglichkeiten eines entsprechenden systematischen Vorgehens wird in Kapitel 4.1 ausführlich eingegangen.
Noch einmal: Das vorliegende Buch will einen Beitrag leisten, um die Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften/LehrerInnen in Kita und Schule in der Begegnung mit Kindern (und deren Familien), deren Verhalten als herausfordernd erlebt wird, zu stärken und weiter zu fördern. Dabei wird von einem Grundprinzip ausgegangen, das Aufbau und Inhalte des Buches strukturiert und auf das immer wieder zurückgegriffen wird: Der Kern professionellen pädagogischen Handelns sowohl in Kindertageseinrichtungen als auch in Schulen besteht darin, (1) zunächst systematisch ein Kind und seine ›Lebensäußerungen‹ – sei es das Bewältigen einer Mathematikaufgabe, das Malen eines Bildes oder als ungewöhnlich empfundenes Verhalten – zu beobachten. Dann muss (2) das Beobachtete analysiert und verstanden werden. Dieses Verstehen wird zur Grundlage für eine (3) Handlungsplanung, die dann wiederum (4) zum konkreten Handeln führt. Die Ergebnisse, die Folgen des Handelns, werden (5) überprüft und sind möglicherweise Ausgangspunkt erneuter Beobachtung (
Dieser Kreislauf hat Entsprechungen z. B. in den Kompetenzbeschreibungen frühpädagogischer Fachkräfte (vgl. Robert Bosch Stiftung, 2011; Fröhlich-Gildhoff et al., 2014a), in didaktischen Konzepten im Schulkontext – wie der »Förderspirale« zur individuellen Bildungsplanung (Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg, 2009) oder auch dem »Public Health Action Cycle« (Rosenbrock & Hartung, o. J.) der Gesundheitswissenschaften.
Der Kreislauf verweist zugleich darauf, dass professionelles Handeln darin besteht, nicht direkt vom Beobachten zum Handeln zu ›springen‹ – wenn ein Kind bspw. eine Regel mehrfach missachtet, geht es zunächst nicht darum, immer und immer wieder die angekündigten Konsequenzen umzusetzen. Professionalität besteht darin, zu verstehen, warum das Kind dennoch die Regel übertritt. Hier gilt es, Hypothesen zu bilden und auf deren Grundlage das eigene Handeln zu planen.
Dieser Kreislauf ist außerdem die Grundlage für die Strukturierung des vorliegenden Buches: Für das Beobachten ist es nötig, die eigene Subjektivität der Wahrnehmung zu reflektieren (
Handlungsplanung und Handlungsmöglichkeiten – als einzelne Fachkraft, aber auch auf Ebene der Institution – werden für unterschiedliche Altersstufen in den Kapiteln 4.3 und 5 beschrieben. I. d. R. müssen dabei die Eltern des Kindes einbezogen werden, mögliche Kooperationsformen