Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Farhad Khosrokhavar
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935306
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(homegrown terrorism) oder Terrorismus von innen nennt? Ein Terrorismus also, dessen Keimzelle nicht in fernen Ländern (im Nahen und Mittleren Osten), sondern in Europa oder, seltener, in den Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada liegt?

      Eine weitere Reihe von Fragen betrifft das Persönlichkeitsprofil derer, die den Weg der Radikalisierung einschlagen. Was sind die typischen Profile derjenigen, die dem Terrorismus neuerer Prägung in die Arme laufen? Wie bilden sich die einzelnen Gruppen, was stiftet ihren Zusammenhalt, was lässt sie zur Gewalttat schreiten? Wie und wo rekrutieren sie ihre Mitglieder? Welche Merkmale müssen sie aufweisen, um die Anhänger ihrer radikalen Auffassungen dazu zu bringen, sich aktiv an Anschlägen zu beteiligen? Kurzum: Wie werden Sympathisanten zu Terroristen? Und welche Maßnahmen zur Deradikalisierung gibt es, wenn jene der Anziehungskraft der Terroristen einmal erlegen sind?

      In Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Norwegen hat man ebenso wie in einer Reihe von muslimischen Ländern „Deradikalisierungsverfahren“ ersonnen, die Gruppentherapie und Belehrung durch „kompetente Autoritäten“ (im Fall der radikalen Islamisten sind das Imame) mit polizeilicher und psychologischer Nachsorge verbinden, um vormals Radikalisierte zu gewaltfreiem Verhalten hinzuführen.

      Vor allem in den Vereinigten Staaten, in geringerem Ausmaß aber auch in Europa, in den häufig autoritären Regimen des Nahen und Mittleren Ostens und anderswo haben die Regierungen die Dienste der akademischen Welt in Anspruch genommen, um Persönlichkeitsprofile erstellen zu lassen, die anfällig dafür machen, unter dem Einfluss radikaler Ideologien (hauptsächlich des dschihadistischen Islam) zum Gewalttäter zu werden. Um darüber Aufschluss zu erhalten, sind Milliarden Dollar investiert worden, entweder direkt (von den amerikanischen Geheimdiensten, namentlich der Homeland Security, aber auch durch Eigenmittel von Städten wie New York) oder indirekt (durch Forschungsförderung). Radikalisierung, zuvor ein eher randständiges Thema, wurde zu einem Gegenstand ersten Ranges, dessen Erforschung die westlichen und auf deren Betreiben auch die muslimischen oder muslimisch geprägten Staaten vorantrieben, um Informationen zu sammeln, die es zur Eindämmung dieser von kleinen Gruppen ausgeübten Gewalt braucht.

      Man spricht inzwischen von einer neuen Art von Kriegen mit niedriger Intensität, deren Vervielfältigung nach dem Ende der bipolaren Welt, wie es vom Berliner Mauerfall symbolisiert wird, einen tiefgreifenden Wandel in der Natur der Konflikte anzeigt. Für solche Kriege, in denen eine Guerilla oder Terroristen mitgeführte Sprengladungen in den Städten zur Explosion bringen, sind traditionelle Streitkräfte ohne grundlegende Modifikation ihrer Kriegsführung und Informationsbeschaffung nicht gerüstet.

      Seit den 1990er Jahren ist der Westen mit Gewalttaten von „hausgemachten Terroristen“ konfrontiert, also von radikalen Islamisten, die in Europa oder den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind (so der in Frankreich zur Schule gegangene Khaled Kelkal, auf dessen Konto der Anschlag auf die Linie B der Pariser Regionalbahn RER geht, bei dem 8 Menschen zu Tode kamen und 148 verletzt wurden). Aber mitunter halten sich auch Mitglieder ausländischer Netzwerke im Westen auf, wie etwa in Deutschland die al-Qaida-Mitglieder, von denen der Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme ausgeführt wurde. Diese beiden Typen von Terroristen ausfindig zu machen stellt die Geheimdienste jeweils vor ganz unterschiedliche Anforderungen.

      Der Bedarf an Information über diese Terroristen, hausgemacht oder nicht, und über die Wege, auf denen sie sich Ideologien anschließen, die Gewalt predigen, um schließlich zur Tat zu schreiten, ist größtenteils dafür verantwortlich, dass Radikalisierung zu einem Schlüsselbegriff wurde, wenn es darum geht, die Etappen der Heranbildung terroristischer Akteure zu verstehen.

      Radikalisierung ist ein Phänomen, das in den westlichen und selbst in den islamischen Gesellschaften eine Minderheit, ja eine verschwindend kleine Minderheit betrifft. Es mag viele geben, die einer radikalen Ideologie anhängen, und viele, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen Gewalt ausüben (Kriminalität, Verbrechen aus Leidenschaft). Aber es gibt nur sehr wenige, die beide Dimensionen verknüpfen, um daraus ein Mittel der Selbstverwirklichung zu machen – solange sie nicht in Staaten leben, in denen eine suprematistische Ideologie herrscht (das heißt eine, die die Überlegenheit einer Rasse oder gesellschaftlichen Gruppe propagiert), oder sich zu Repräsentanten einer Klasse (wie der Arbeiterklasse im Falle der Sowjetunion unter Stalin) oder einer Nation aufwerfen (radikaler Nationalismus wie im nationalsozialistischen Deutschland). Der Begriff der Radikalisierung, wie wir ihn definieren, schließt indessen den Staat nicht ein, sondern beschränkt sich auf Bewegungen von unten, die von Individuen oder Gruppen ausgehen, die im Namen einer ex­­tremistischen Ideologie Gewalt anwenden. Der Begriff der Radikalisierung ist dem des Terrorismus in mancher Hinsicht verwandt, aber er unterscheidet sich von ihm darin, dass er sich auf die Akteure und die Formen, in denen sie sich der Gewalt verschreiben, auf ihre Motive, kurzum: auf die subjektive Dimension ihres Handelns konzentriert – in Verbindung mit den typischen Organisationen, die sich ihrer annehmen und zu deren Entstehung sie auf ihre Weise beitragen.

      Radikalisierung ist also, aus dieser Perspektive betrachtet, ein Phänomen, das nur bei einer sehr kleinen Minderheit zu beobachten ist, ob im Westen (wir denken an dschihadistische Täter, aber auch an gewalttätige Rechtsextreme wie den Norweger Breivik) oder in anderen Teilen der Welt (in der muslimischen Welt mag sich die dschihadistische Bewegung der Sympathie einer mehr oder weniger großen Zahl von Personen erfreuen, aber die dschihadistischen Täter im strengen Sinne sind, selbst in Pakistan, ein kleine Minderheit).

      Die Zahl der Mordopfer, die auf das Konto eines Dschihadismus, der einer extremistischen Version des Islam verpflichtet ist, oder auf das des Terrorismus überhaupt geht, den rechtsextremen oder linksextremen eingeschlossen, ist seit dem Juli 2005 vergleichsweise gering. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben 2793 Opfer und 6291 Verwundete gefordert, die 19 Luftpiraten, von denen die Flugzeuge in die Zwillingstürme gelenkt wurden, nicht eingerechnet. Den Anschlägen der Dschihadisten in den Vorortzügen von Madrid vom 11. März 2004 fielen 191 Menschen zum Opfer, 1858 wurden verwundet. Und bei den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in der Metro und im Bus in London gab es neben den vier Selbstmordattentätern 52 Tote und 700 Verwundete. Nach diesem Datum forderte nur noch das Attentat von Anders Breivik am 22. Juli 2011 eine große Zahl von Opfern (77 Tote und 151 Verwundete).

      Die Zahlen, die Europol über die Jahre 2011 und 2012 für Frankreich und Europa veröffentlicht hat, zeigen, dass der dschihadistische Terror dort in den letzten Jahren deutlich in der Minderheit ist, sowohl der Zahl der Anschläge als auch der Zahl der verhafteten Personen nach, selbst wenn die Zahlen von einem Jahr zum anderen stark schwanken.

      Tabelle 1

FrankreichEuropa
2011Anzahl der terroristischen Anschläge85 separatistische Anschläge;keine dschihadistischen Anschläge174 Anschläge in7 Ländern (Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Dänemark, Griechenland), darunter kein erfolgreicher dschihadistischer Anschlag
Anzahl der wegen Terrorismus verhafteten Personen174davon 46 wegen Dschihadismus,126 wegenSeparatismus484davon 122 wegen religiös motivierten Terrorismus
Anzahl der wegen Terrorismus verurteilten Personen45316
2012Anzahl der terroristischen Anschläge125 Fälledavon 4 dschihadistische, 126 separatistische219 Fälledavon 6 dschihadistische, 167 dschihadistische, 18 linksex­treme, 2 rechtsextreme
Anzahl der wegen Terrorismus verhafteten Personen186davon 91 wegen Dschihadismus, 95 wegen Separatismus537davon 159 wegenDschihadismus257 wegen Separatismus, 24 Linksextreme,10 Rechtsextreme, 87 nicht spezifizierte

      Quelle: Europol Te-Sat 2012 und 2013

      Bei der Zahl der Todesopfer sind die Verhältnisse ähnlich. Gleichwohl fürchtet sich die Öffentlichkeit vor allem vor radikalen Islamisten. Der (zurückgehende) korsische oder baskische, aber auch der rechtsextreme Terrorismus (der Fall Breivik oder die extreme Rechte in Griechenland, in Deutschland, ja in Frankreich) erzeugen nicht solche Ängste wie der radikale Islamismus. Es gibt ganz offenbar eine Angst, die sich spezifisch auf den Dschihadismus richtet und die sich auch in der überproportionalen Berichterstattung ausdrückt, die ihrerseits die in der Öffentlichkeit herrschenden Ängste verstärkt.

      Die