Würden wir jetzt nach den Menschheitssünden vor der gegenwärtigen Krisenvielfalt fragen, was würden wir alles aufzählen? Wahrscheinlich das Wirtschaftswachstum um jeden Preis, die Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich, das aus diversen Gründen allzu große Bevölkerungswachstum in vielen Teilen der Welt, die gnadenlose Ausbeutung von Mensch und Natur, das Machtmonopol Geld u. Ä.: Schatten gibt es zur Genüge! Und was könnte der Lerngewinn sein? Wie wäre es mit einer selbst auferlegten superben Bescheidenheit? Nicht nur bezüglich der materiellen Unersättlichkeit bei den reicheren Volksschichten. Auch generell in Bezug auf Ansprüche, Rechthaberei, Verurteilen und eine Selbstüberheblichkeit, die dem Zustand unserer Spezies in keiner Weise angemessen ist.
Ich möchte behaupten, die Chance unserer Ära bestünde in einem Training in neuer Bescheidenheit. Freilich wären in unseren Landen z. B. Weinbauern und Getränkehersteller entsetzt, würde man sagen, dass man auch frisches Wasser statt Wein und süßer Limonaden zum Essen trinken kann. Kosmetik- und Schönheitssalonbesitzer wären entsetzt, würde man konstatieren, dass man auch mit Fältchen im Gesicht und ungefärbten Haaren fröhlich leben kann. Baulöwen wären entsetzt, würde man propagieren, dass für Kleinfamilien auch kleine Wohnungen vollauf genügen. Vertreter der Automobilbranche wären entsetzt, würde man darauf hinweisen, dass fast niemand die immer größeren und stärkeren Fahrzeuge benötigt. Es ist eben viel leichter, auf ein langsam anlaufendes Karussell aufzuspringen, als dann, wenn es sich kontinuierlich schneller dreht, wieder abzuspringen.
Eine Pandemie könnte sozusagen einen Zwangsabsprung einleiten, der zwar etliche Blessuren nach sich zieht, aber beweist, dass „es geht“. Dass sich schier ungebremstes, primär quantitatives Wachstum doch noch abbremsen lässt, bevor es implodiert. Zukunftsforscher haben ja schon lange ein Unbehagen bezüglich einer ungebremsten Menschheitsvermehrung und Wirtschaftsexpansion auf einem Planeten, der nicht mitexpandiert.
Antwort geben müssen
Reinhardt Wurzel: Epidemien ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch. Schon in der Bibel sind dergleichen einschneidende Ereignisse erwähnt. Einige führten dazu, dass ein großer Prozentsatz der Weltbevölkerung verstarb, aber auch andere mit geringeren Opferzahlen rückten die großen Fragen des Lebens in den Fokus und in das Bewusstsein der Menschen.
Unter einer Epidemie versteht man das gehäufte Auftreten von Krankheitsfällen derselben Ursache innerhalb eines bestimmten Gebietes und Zeitraums. In unserer globalisierten Welt mit ihrem internationalen Verkehr und Warenaustausch wuchern sie pfeilschnell von Region zu Region. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge erkranken jährlich 10 bis 20 Prozent der Weltbevölkerung an Grippewellen (Influenza) mit Opferzahlen zwischen 200.000 und 400.000 Menschen. Bei schweren Verläufen kann auch eine Grippe tödlich enden, sowohl bei Kleinkindern und Teenagern als auch bei Erwachsenen, insbesondere bei älteren Menschen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich ständig neue Varianten an Viren bilden – mit unter Umständen längeren Inkubationszeiten.
Ich stimme meiner Koautorin zu, dass wir uns im Klaren darüber sein sollten, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Weder vor Viren oder Bakterien noch vor Krankheiten oder Unfällen, ob im Haus oder außerhalb des Hauses. Unser „Lebensschiff“ fährt trotz aller möglichen Umsicht immer auf einem Ozean der Überraschungen dahin – und nicht jede Überraschung ist erbaulich. Es gibt für unser „Schiff“ viele unsichtbare Riffe oder unsichtbare Eisberge; und wie eine zunächst vergnügliche Fahrt ausgehen kann, bezeugen die Katastrophen der Ozeanriesen Costa Concordia und Titanic. Kein Kahn ist unsinkbar. Niemand ist gegen Unglück gefeit.
Zum Nachdenken:
„Nicht die Glücklichen sind dankbar.
Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“
(Francis Bacon)
Elisabeth Lukas: Es gibt ein interessantes philosophisches Wort von Frankl, der gemeint hat, dass wir nicht die Fragenden, sondern die Antwortenden sind. Es ist nutzlos, das Leben zu fragen oder dagegen aufzubegehren, dass unsere Umstände so und so sind, wie das Schicksal sie uns eben präsentiert. Das Leben ist es, das uns quasi die Fragen stellt. Es fragt uns: „Deine Umstände sind so und so – was machst du daraus? Wie antwortest du darauf? Wie handelst du angesichts der vorliegenden Umstände? Wie stellst du dich zu ihnen ein?“ Darin, in diesem Antwort-geben-Können, ja Antwort-geben-Müssen liegt unsere Wahlfreiheit. Nie sind wir frei von irgendwelchen Belastungen (übrigens auch nicht von eventuellen Entlastungen), sondern wir starten dort in die Freiheit, wo wir beginnen, mit unseren Belastungen und mit unseren speziellen Möglichkeiten auf unsere ganz persönliche Weise umzugehen. Das ist ein Aspekt, der in einem Ausnahmezustand wie demjenigen, in dem wir uns derzeit befinden, sehr hilfreich sein kann. Nämlich zu wissen: Auf die Antwort von jedem Einzelnen von uns kommt es an.
Tatsächlich beobachten wir unzählige Beispiele von großartigen Antworten, die Menschen („Heilige“ in Frankls Diktion) auf die rasante Virus-Ausbreitung und seine enormen Konsequenzen gegeben haben und weiterhin geben. Wie viele waren sich ihrer Systemrelevanz bewusst und arbeiteten unter Risikobedingungen, um die Bevölkerung mit dem Notwendigen zu versorgen. Wie viele meldeten sich freiwillig zur Unterstützung der Alten, Schwachen und Behinderten. Wie viele entwickeln Ideen, um geschäftliche Ausfälle zu kompensieren. Wie viele stehen Bekannten und Nachbarn bei. Ich denke, dass unsere Kinder in der jetzigen Zeitspanne bei allen unbestreitbaren, oft großen Problemen für sie selbst wie für die Familien etliches mehr lernen, als sie in den Schulen gelernt hätten, die sie wochenlang nicht besuchen durften. Sie lernen auf eine neue Weise Solidarität, Zusammenhalt, Verzicht, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme und was sonst noch in Phasen der Bedrängnis nötig ist. Und sie lernen Dinge neu wertzuschätzen: dass es zum Beispiel schon das reinste Glück ist, morgens ohne Fieber aufzuwachen und fröhlich aus dem Bett springen zu können. Oder dass es gar nicht selbstverständlich ist, in einem Park herumtollen zu können.
Natürlich ist jeder Lernprozess mühsam. Es gibt massive Widerstände, betrübliche Rückschläge, falsche Verführungen. Aufschreie oder Resignation lösen die erste Schockstarre ab. Nichts läuft reibungslos. Trotzdem bin ich sicher, dass unsere Gesellschaft nach dem Abklingen der gegenwärtigen Pandemie-Phase nicht nur eine negative ökonomische Bilanz ziehen wird. Im geistig-seelischen Bereich wird sie vielleicht gar eine positiv getönte Bilanz ziehen. Man wird in seinen Ansprüchen zwangsläufig bescheidener geworden sein. Man wird mit weniger Luxus zufrieden sein. Vielleicht wird man die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln ein für allemal beenden, ebenso auch eine grausame und dem Tierwohl widersprechende „Fleischproduktion“. Und man wird, so die Hoffnung, soziale und familiäre Beziehungen weniger leichtfertig gefährden, weil man gemerkt haben wird, dass ein kooperatives, achtungsvolles Miteinander immer noch trägt, wenn andere Werte wegbrechen.
Als Kriegskind bin ich in den kargen Nachkriegsjahren aufgewachsen. Deswegen sei mir der folgende kleine Hinweis gestattet: Ich kann mich nicht erinnern, dass damals auch nur ein Kind in unserer Schule übergewichtig war. Essen war rar. Autos gab es noch kaum, Geld für die Straßenbahn hatten wir sowieso nicht, und daher bewegten wir uns ständig. Wir Mädchen waren so spindeldürr (was natürlich auch nicht ideal ist), dass die Mode bauschige Unterröcke erfand, damit wir nicht gar zu mickrig wirkten. Heutzutage erfindet sie Hängekleider, die dicke Bäuche kaschieren sollen.
Eine verschlechterte Wirtschaftslage könnte ein fulminanter Anlass zum Abspecken sein. Im Großen zum Abspecken etwa von Militärausgaben (im Jahr 2019 beliefen sie sich auf 1,92 Billionen = 1.920.000.000.000 Dollar weltweit). Im Kleinen – und da sind