Einleitung
Vielleicht haben einige Leser dieses Buchs schon unser früheres Andachtsbuch, Ein Jahr mit den Psalmen, mit Gewinn gelesen. Vor allem für sie ist es hilfreich, über die Unterschiede zwischen den Psalmen und den Sprüchen nachzudenken. Die Psalmen sind voll von Gefühlen – Schmerz, Freude, Preis und Dank. Sie zeigen uns, wie wir das, was wir erlebt haben, im Angesicht Gottes verarbeiten können. Die Sprüche (in manchen Bibelübersetzungen auch: „Sprichwörter“) sind ein ganz anderes Buch. Sie sind ein Aufruf zum Nachdenken, eine Einübung in die Disziplin, all unser Denken und Tun auf Gott auszurichten. Eine der Hauptbotschaften der Sprüche lautet: Man lernt nie aus. In den Psalmen geht es darum, wie wir uns im Glauben ganz auf Gott werfen, in den Sprüchen darum, wie wir als Glaubende diesen Glauben ganz praktisch ausleben. Wenn die Bibel ein Medizinschrank wäre, dann wären die Psalmen eine Art Brandsalbe zum Beruhigen und Heilen der Haut, während die Sprüche eher ein Riechsalz sind, das die Sinne schärft und einen wach macht.
Wie kann man das Buch der Sprüche mit Gewinn lesen? Hier ein paar Hinweise:
Die Sprüche als Dichtung
Das Buch der Sprüche ist nicht ein Lebenshilfebuch zum raschen Durchlesen, vom Typ „sieben Schritte zu einem gelungenen Leben“. Ein Spruch ist eine sprachliche Kunstform, die mir, wenn ich mich geduldig mit ihr auseinandersetze, nach und nach Weisheit gibt. Die Sprüche sind ursprünglich auf Hebräisch verfasst, sodass der moderne deutsche Leser nicht die ganze Kraft des Originals spürt, aber wenn wir uns ein wenig über die Regeln der hebräischen Dichtkunst informieren, entdecken wir Bedeutungsebenen, die wir sonst glatt übersehen würden. Das vielleicht fundamentalste Merkmal der hebräischen Dichtung ist der sogenannte Parallelismus: Zwei Wortgruppen, Teilsätze oder Sätze werden so nebeneinandergestellt, dass sie einander modifizieren und präzisieren. Der zweite Teilsatz kann zum Beispiel den im ersten ausgedrückten Gedanken weiterspinnen und ausbauen – oder aber einen Kontrapunkt setzen, der den Gedanken abmildert oder relativiert. In beiden Fällen verdeutlichen und präzisieren die beiden Teile einander, sodass unsere Erkenntnis sich vertieft.
Sprüche 13,6 lautet zum Beispiel: „Rechtschaffenheit ist die beste Voraussetzung für einen tadellosen Lebenswandel, Ungerechtigkeit aber stürzt einen Menschen in Sünde.“ Der erste Teilsatz hilft uns, die „Ungerechtigkeit“ in dem zweiten Teilsatz genauer zu verstehen: als einen Mangel an Rechtschaffenheit. Aufgrund des Stilmittels des Parallelismus bedeuten die Worte „unrecht“ und „rechtschaffen“, aber auch „weise“ und „töricht“, die sich ständig und scheinbar unnötig in dem Buch wiederholen, in jedem Spruch etwas anderes. Uns wird viel von der Bedeutung eines Spruches entgehen, wenn wir nicht seine Teilsätze sehr sorgfältig miteinander vergleichen und untersuchen, wie die Worte zusammenspielen.
Ein weiteres wichtiges Merkmal der hebräischen Dichtkunst (wie wohl der Dichtkunst aller Sprachen) ist der Einsatz und hohe Stellenwert lebendiger Bilder. Da wird eine Frau mit viel Schönheit und wenig Anstand mit einem goldenen Ring im Rüssel eines Schweines verglichen (Sprüche 11,22), und ein arbeitsscheuer Angestellter ist wie Essig für die Zähne (10,26). Jedes neue Bild ist eine Einladung, darüber nachzudenken, mit was man eine Sache alles vergleichen kann. Der aufmerksame Leser kann fünf, zehn, oder noch mehr Arten aufzählen, auf die das Bild das Gemeinte illustriert.
Die Sprüche als Rätsel
Goethe hat einmal gesagt, dass der, der nur eine Sprache kennt, gar keine kennt. Was sehr wahrscheinlich richtig ist, aber noch richtiger ist es, dass der, der nur einen Spruch aus dem Buch der Sprüche kennt, keinen kennt.1 Wenn es in einem Spruch heißt, dass die Menschen, die moralisch anständig leben, es immer gut im Leben haben, und dann in einem anderen, dass die Guten manchmal leiden müssen, denkt der moderne Leser sofort, dass hier ein Widerspruch ist. Das liegt daran, dass er nur den einzelnen Spruch vor sich sieht, den er entweder als absolute, für sich stehende Verheißung oder als ebenfalls für sich stehenden Befehl deutet. Doch genau das sind die Sprüche in aller Regel nicht. Jeder Spruch ist vielmehr eine Beschreibung eines bestimmten Aspektes, wie das Leben funktioniert. Da lesen wir einen Spruch über das Eheleben, der, für sich genommen, für alle ehelichen Situationen zu gelten scheint, doch dann zeigt ein späterer Spruch, dass es eheliche Situationen gibt, in denen ein anderes Verhalten das richtige ist. Erst wenn man die Sprüche zusammen betrachtet, sodass sie einander so modifizieren und präzisieren, wie die Teilsätze innerhalb eines Spruches das tun, ergeben sie ein volles, multidimensionales Bild von einem bestimmten Thema oder Lebensbereich.
Kurz: Um die Bedeutung der Sprüche aufzuschließen, müssen wir sie zusammen betrachten. Keiner der einzelnen Sprüche ergibt das ganze Bild. Sprüche 29,19 besagt, dass Diener grundsätzlich dazu neigen, Anweisungen nicht zu befolgen, sodass man streng zu ihnen sein muss – aber 17,2 informiert uns, dass ein kluger Diener am Ende womöglich besser dasteht als ein missratener Sohn. Erst wenn wir die beiden Sprüche nebeneinanderstellen, erkennen wir, dass 29,19 gerade keine Aussage über alle Arbeitnehmer ist, sondern nur über die, die das Arbeiten nicht erfunden haben.2
Es kann sehr lohnend sein, die Aussagen, die die unterschiedlichen Sprüche über ein Thema machen, nebeneinanderzuhalten. In Kapitel 12 erfahren wir, dass der Weg in das sichere Unglück einem Narren wie der richtige Weg vorkommen kann, nur um in Kapitel 16 zu lesen, dass der falsche Weg jedem als der richtige erscheinen kann. Mit anderen Worten: Selbst wenn ich „alles richtig mache“, kann mein Leben trotzdem schiefgehen, weil ich in einer kaputten Welt lebe. Der Weise weiß, dass manchmal jeder Weg „ein Weg in den Tod“ sein kann (16,25). Wie wir noch sehen werden, gibt es eine Ordnung, die Gott der Welt gegeben hat, als er sie schuf, und der wir folgen müssen. Doch andererseits ist dies eine gefallene, von der Sünde entstellte Welt, und die Weisen wissen, dass die Schöpfungsordnung nicht immer funktioniert und auch nicht immer leicht zu erkennen ist.
Nur wenn wir sie alle zusammensehen, geben uns die Sprüche ein weises, differenziertes, theologisch reiches Bild von der Welt.
Die Sprüche als Pädagogik
Viele Ausleger kommen zu dem Ergebnis, dass das Buch der Sprüche ursprünglich als Handbuch für die Erziehung junger Männer gedacht war. Die Adressaten werden jedes Mal „Söhne“ genannt. Wenn das stimmt, ist es nur sinnvoll, dass wir in den Kapiteln 5 bis 7 eindringliche Warnungen vor der fremden Frau und der Ehebrecherin finden, aber keine Warnungen vor entsprechenden Männern.3 Manche modernen Leser ärgern sich über diese „Männer-Orientiertheit“, aber es wäre falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass das Buch der Sprüche „frauenfeindlich“ sei oder dass nur Männer in der Weisheit unterwiesen werden sollten.
Wir haben gesehen, dass die Abfassung und die Verbreitung der Sprüche große Kunstfertigkeit und tiefe Weisheit erforderten. Nun, in Sprüche 1,8; 4,3; 10,1 und anderswo sind es der Vater und die Mutter, die ihren Sohn unterweisen. Die Mutter war bei den alten Hebräern „eine maßgebende Stimme, die neben dem Vater stand“.4 Was doch nur bedeuten kann, dass nicht nur Söhne, sondern auch Töchter in der pointierten Poetik und epigrammatischen Weisheit der Sprüche unterwiesen wurden. Was die ideale Ehefrau von Sprüche 31,26 sagt, ist „weise“, und (so wörtlich) „freundliche Weisung ist auf ihrer Zunge.“ Will sagen: Sie äußert sich ausführlich und feierlich und gibt die Weisheit der Vorfahren weiter.5 Während also die ursprünglichen Adressaten der Sprüche männlich waren, gelten die Weisheit und Unterweisung in diesem Buch allen Menschen und beiden Geschlechtern.
Bei all dem sollten wir eine weitere Tatsache nicht vergessen: Die Sprüche sind nicht für die private Lektüre geschrieben worden, sondern als eine Art Handbuch zum Durcharbeiten in einer Gemeinschaft von Schülern