7.
Über all das: Gespräche mit Andreas Dresen. Gespräche mit einem Künstler sind ja – keine Kunst. Denn: Das Reden mit einem Filmregisseur gehört nicht zu dessen Werk. Das Werk steht, unantastbar durch Kommentar, höher und woanders. Dresen weiß: Die eigenen Filme gar zu sehr in die Nähe der eigenen Biografie zu rücken, das macht diese Filme möglicherweise kleiner; jedes Werk hat ein Recht darauf, klüger und farbiger zu sein als sein Schöpfer. Soll das Werk also von sich selber sprechen. Und für sich selber. Für sich spricht ein Werk dann am besten, wenn es ihm gelingt, vor vielen zu sprechen. Und der Regisseur? Spricht in diesem Buch auch von sich. Andreas Dresen spricht nicht adressiert. Wer adressiert spricht, richtet Sprache ab zum Vokabular. Vokabular neigt dazu, laut zu sein. Dresen steht für die Steigerungsform: Er ist lauter, als redlich, also eher leiser als zu laut.
Gespräche mit einem Künstler, der was zum Sagen hat, sind Gespräche über das, was dieser Künstler gesagt hat – aber was er gesagt hat, es muss erst so werden, wie es im Buche steht: Der O-Ton kommt aus anderen Welten als das Wort aus Buchstaben. Eine Unterhaltung zu zweit, wie schafft sie es in den Essay zu zweit? Das ist die Frage. Das Wesentliche des Filmhandwerks liefert dem Buch die Antwort: Schnitt, Montage. Ein jedwedes Gespräch im Radio, im Fernsehen ist Tonfall; eine Verschriftlichung aber ist Tonaufstieg – ins gesteigert und konzentriert Gedankliche. Etwas Revue passieren lassen? Revue passiert nicht, Revue braucht Choreografie, braucht Dramaturgie, braucht Fantasie für das, was sich zur Ordnung fügen möge.
Intensive Begegnungen mit Dresen. Über Jahre hinweg. Bis April 2020. Meine Wahrnehmungsorgane schienen nach diesen Treffen enger zusammenzurücken. Gespräche in Potsdam, im Haus unmittelbar vor den Toren der Stadt. Tief im Grünen. Von Besuchern ist überliefert, im Garten zeigten Eichhörnchen ihre Kunststücke. Ich sah nur die vielen Gänseblümchen, die mitwirken an der Balance aller Dinge; nichts ist zu gering für diese große Arbeit – was hier wächst, feiert die Zustimmung zur Welt.
Zwischen Dresen und mir ein Aufnahmegerät. Wie ein Zwischenlager, für Erinnerung, Erfahrung, Erkenntnis, Erlebnis, Erzählung, Erfindung, Erwartung, Erörterung, Erbauung. Wir sprachen über des Regisseurs bislang betriebene schöne Arbeit, zu einem unverwechselbaren Leben zu kommen: ein fortwährendes Zur-Welt-Kommen. Was so zur Sprache kam, liegt nun vor. Sammlung, Verdichtung. Keine Biografie, denn Biografien vernichten Leben, mit ihrem Beschluss: Das war’s. Nein, Dresen ist unterwegs, und ein Reden über die Routen der Existenz – gleichsam aus dem Lauf heraus – sollte stets Nähe zur Wesensart des Unterwegsseins aufweisen: Sprünge, Innehalten, Umweg, Seitenstraßenlust, erneut Sprünge. Was heute gesagt würde, morgen schon könnte es anders lauten. Gespräch ist Gewebe, der Riss darin gesünder als das Muster. Also Zickzack statt Zielgenauigkeit; Bruchstücke statt Bögen.
»Bilde, Künstler, rede nicht!« Der Satz stimmt noch immer, aber noch immer stimmt auch: »Wer sich ausspricht, betreibt Einkehr.« So Alexander Kluge. Er nennt Gespräche, die buchhandelstauglich werden wollen, »Konstruktionen zwischen Einfühlungsritual und zuspitzendem Zweipersonenstück – ach, was immer sie sein mögen: Hauptsache, sie sind unvollkommen, unvollendet«. Na, vor allem mit Letzterem halten wir doch allemal mit!
8.
Dresen ist un-verschämt freiherzig bei der bewussten Banalisierung von Dingen, denn er mag ihn nicht, den falschen Heiligenschein der Intellektualität. Mit anderen Worten: Er heiligt die Dinge durch Scheulosigkeit, sich »normal und gewöhnlich« zu verhalten – in all dem, was hinter, und in dem, was vor der Kamera geschieht. Über seinen Film »Sommer vorm Balkon« schrieb Christoph Dieckmann in der Wochenzeitung »Die Zeit«: »Am Ende sitzen Katrin und Nike wieder auf ihrem Balkon. Nana Mouskouri singt: ›Die Welt wird sich weiterdrehn, auch wenn wir auseinandergehn.‹ Katrin sagt: So ist das Leben.‹ So könnten alle Dresen-Filme heißen.«
Ja, so ist das Leben wirklich, und Dresen wird während unserer Unterhaltungen den Satz sagen, Kunst wolle ja eh nicht Kunst sein, sondern Leben. Was ist denn Spiel vor einer Kamera? Eigentlich nichts weiter als ein Spiel mit der Oberfläche des menschlichen Gesichts, des Körpers; Kino ist ein Verhüllen und Entblößen – nach Maßgabe der Schatten, die über einen Menschen hinwegziehen, oder des Lichts, das auf ihn fällt. Beim Mühen wider die Lebensspurlosigkeit.
Es geht in den Filmen dieses Regisseurs um die lohnende Utopie des Bedeutungsmangels: Du bist ein Wesen am Grund der Zeitläufe, du bist für vieles ein bestimmter Grund, aber dennoch gibt es für deine absolute Einmaligkeit keinen höheren Grund – was aber kein Grund ist, am Grund des Lebens so zu verzweifeln, dass du den Grund unter den Füßen deiner Seele aufgäbst. Dresen beobachtet und inszeniert gegen die grobe, unbedachte, herablassende Formel vom sogenannten einfachen Menschen; seine Lebewesen erzählen von ihren redlichen, auch vergeblichen Einübungen ins soziale Regelwerk, mitunter auch ein Mahlwerk, und ihnen widerfährt dabei die schmerzensschönste Sehnsucht: Hornhaut runterreißen zu wollen, nicht das Dasein.
Dresen ist kein Erzähler hauptsächlich der Hartgesottenen. Er mag die Weichgesottenen. Die davon erzählen, was das Leben nicht zu bieten hat. Das ist wohl unser ganzer Besitz. In seinen Filmen suchen Unruhige und Verwirrbare eine Bleibe, die in ihnen selbst wurzelt. Noch im Unglück, so der Essayist Georg Seeßlen, seien Dresens Geschichten »perforiert von Magie und Versprechen, um die Gegenwart einer Kamera zu rechtfertigen – als Gegenentwurf zu jener Kamera, die aus dem wirklichen Leben ein Event für eine halbe Fernsehstunde macht und es dann fortwirft.«
In Gesprächen achtet der Regisseur nicht auf die angebliche Bedeutsamkeit. Er hält sich nicht auf bei Etikette, er ist immer schon weiter, in seinen Hoffnungen und Ehrlichkeiten. Er hofft nämlich sehr ehrlich darauf (dies besitzt etwas Freches), nicht missverstanden, nicht ausgenutzt, nicht enttäuscht zu werden vom Zutrauen, das er hergibt. Er ist also ein wahrhafter Handelspartner: Er liefert sich aus. Es ist eine jugendliche Anfänglichkeit an ihm zu spüren, die kein Ende signalisiert, nur weil die Jahre auch ihn einholten. Er behält seine Kraft, die aus Neugier, aus Offenheit, aus Natürlichkeit, aus Unbefangenheit ihre Energie bezieht. Es ist eine Kraft, die sich gibt, als sei sie die Schwester vom Schilf, vom Schilf im Sturm: Das Schmächtige ist das Zähe.
Monika Schindler, eine der besten Babelsberger Schnittmeisterinnen, beteiligt an großen DEFA-Filmen von Roland Gräf bis Egon Günther, erinnerte sich vor Jahren in einer Preisrede für Dresen – es war der Andrzej-Wajda-Preis – an einen sehr jungen Mann in den achtziger Jahren, freundlich, bescheiden der Junge; und als man nach Jahren dann wieder miteinander arbeitete, war der junge Mann noch immer freundlich, bescheiden. Aber wie sie das sagte, da entstand in wenigen Worten die Geschichte eines Künstlers, den man zunächst vielleicht nach seinem Gesicht beurteilte, sehr bald aber nach seinem Kopf – nichts Wertvolleres hat je aufzubieten, was eine Laufbahn genannt werden darf! (Auch wenn Dresen seine Schnittmeisterin ausgerechnet dann an den Schneidetisch für »Nachtgestalten« bat, als die Fußball-WM lief; Schindlers