Wenn sich die Aufmerksamkeit vertieft, verändert sich das soziale Feld. Otto Scharmer beschreibt drei Ebenen der tieferen Wahrnehmung und die jeweils eintretende Veränderungsdynamik, die sie in der sozialen Welt hervorbringt. »Unser Sehen zu sehen« erfordert die Intelligenz unseres geöffneten Denkens, Herzens und Willens.
Der erste Öffnungsprozess setzt ein, wenn Akteure beginnen, ihre eigenen Annahmen zu sehen, und in der Folge Zusammenhänge wahrnehmen, die sie vor dieser Öffnung nicht sehen konnten. Das ist der Anfang jedes Lernprozesses, beispielsweise in einem Unternehmen, das anfängt, signifikante Veränderungen im eigenen Umfeld wahrzunehmen.
Doch etwas Neues zu sehen führt nicht notwendigerweise dazu, anders zu handeln. Es ist dazu eine tiefere Ebene der Aufmerksamkeit nötig, eine, die es den Handelnden möglich macht, aus ihrer Erfahrung der Vergangenheit hinauszutreten und über das Denken hinaus zu empfinden. Zahllose Unternehmen waren nicht in der Lage, auf Veränderungen in ihrem Umfeld einzugehen, obwohl sie diese Veränderungen sehen konnten. Warum? Arie de Geus, Autor und ehemaliger Verantwortlicher für Planung und Strategie bei Royal Dutch Shell, beschrieb dies so: »Die Signale einer neuen Realität penetrieren einfach nicht das Immunsystem des Unternehmens.« Der Durchbruch geschieht erst dann, wenn die Akteure in dieser sich verändernden Realität anfangen, ihre eigene Rolle zu sehen, nämlich das Alte zu erhalten und das Neue zu verhindern. Dieser Durchbruch kann sowohl in einer Organisation als auch etwa auf nationaler Ebene stattfinden. Beispielsweise begann in Südafrika meiner Beobachtung nach diese tiefere Art zu sehen in den späteren 1980ern. Es lassen sich heute viele Beispiele weltweit finden. Die Vorbedingung ist, dass Menschen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, einschließlich des Machtzentrums, aufwachen und die Bedrohung, mit der sie in der Zukunft konfrontiert sind, wahrnehmen. In Südafrika begannen mehr und mehr Menschen zu sehen, dass das Land einfach keine Zukunft haben würde, wenn das Apartheidsystem fortgeführt würde, und dass sie Teil des Systems waren.
Wenn diese Form von Aufwachen beginnt, dann ist es wichtig, dass die Menschen auch zu sehen anfangen, dass die Zukunft sich von der Vergangenheit unterscheiden kann. Dieses »Sehen« einer möglichen Zukunft heißt allerdings nicht notwendigerweise, dass wir intellektuell davon überzeugt sind, dass sich etwas ändern wird; wir kennen das alle: Wir nicken und machen dann weiter wie vorher.
Die dritte Ebene des »Sehens« öffnet unsere tiefen Ebenen von Verbindlichkeit. Diese Öffnung des Willens ist von allen drei Veränderungen am schwersten zu beschreiben. Aber sie kann ungeheuer wirkungsvoll und selbsterklärend sein, wenn sie stattfindet. In Südafrika kam es meiner Ansicht nach zu dieser Öffnung, als Weiße und Schwarze die Liebe für ihr Land entdeckten – nicht für die Regierung oder etablierte Systeme, sondern für das Land an sich. Ich habe das erstmals in vielen Gesprächen mit weißen Südafrikanern gehört, die zu meinem Erstaunen erklärten, dass sie »Afrikaner« seien, dass sie sich dem Land und dem Ort ebenso wie den Menschen dieses Landes tief verbunden fühlten. Diese tiefe Verbindung mit dem Ort bestand auch bei den meisten schwarzen Südafrikanern, trotz ihrer Unterdrückung. Ich bin tatsächlich überzeugt, dass das neue Südafrika aus dieser kollektiven Verbindung hervorgegangen ist, aus diesem tiefen Gefühl, dass es fast eine heilige Pflicht ist, ein Land zu schaffen, das in der Zukunft überleben und gedeihen kann – und das war nur gemeinsam möglich.
Der geöffnete Wille drückt sich oft so aus: »Das ist etwas, was wir tun müssen, obwohl uns nicht ganz klar ist, wie.« Unser Kollege Joseph Jaworski beschreibt dies als ein »Sich-in-die-Sache-Reingeben«. Eine andere Formulierung ist: »Ich hörte den Ruf«, und ich habe das oft Menschen sagen hören, wenn sie ihren Lebensweg beschrieben. Wenn eine Antwort auf diesen »Ruf« nicht mit einem kontinuierlichen Prozess der Öffnung des Denkens und des Fühlens verbunden ist, kann auch eine solche Verpflichtung in Fanatismus umschlagen, und der schöpferische Prozess wird zum Versuch, Dinge mit der blanken Macht des aufzwingenden Willens umzusetzen. Einer der wesentlichen Punkte der Theorie U ist, dass diese drei Öffnungen – des Denkens, des Fühlens und des Willens – zusammengehören und ein Ganzes bilden.
Wenn dieser Öffnungsprozess auf allen drei Ebenen stattfindet, dann geschieht ein Umbruch in der Qualität des Lernens. Alle Lerntheorien und -konzepte basieren auf einem Lernen, das die Vergangenheit zum Ausgangspunkt nimmt. Sie fragen, wie wir von dem, was in der Vergangenheit geschah, lernen können. Dieser Typus von Lernen ist wichtig, aber er ist nicht ausreichend dafür, sich in eine Zukunft bewegen zu können, die sich grundlegend von der Vergangenheit unterscheidet. Dafür ist eine zweite, weniger bekannte Form des Lernens gefordert. Diese Form nennt Otto Scharmer das »Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft«. Ein Lernen von der Zukunft ist entscheidend für Innovationen. Dieses Lernen involviert Intuition. Und es umfasst auch Unklarheit, Unsicherheit und die Bereitschaft, Fehler zu machen. Es bedeutet, sich selber zu öffnen und etwas Undenkbares zu denken sowie etwas zu versuchen, das unmöglich erscheint. Die Ängste und Risiken werden dadurch ausgeglichen, dass wir uns als Teil von etwas Wichtigem empfinden, das im Entstehen begriffen ist und wirklich einen Unterschied machen wird.
Die Theorie und die Methode des U sagen zudem viel über Führung, insbesondere eine Führung in Situationen großer Umbrüche und Unsicherheiten, sowie über systemische Veränderungen. Führung findet auf allen Ebenen statt, nicht nur an der Spitze eines Systems, denn jede wichtige Innovation hat etwas damit zu tun, die Dinge anders als in der Vergangenheit zu tun und nicht nur über neue Ideen zu reden. Die Form von Führung ist in Menschen und Gruppen verankert, die in der Lage sind, etablierte Ideen, Praktiken und sogar Identitäten abzulegen. Führung setzt oft dann ein, wenn Menschen beginnen, sich mit dem zu verbinden, was sie wirklich sind, um ihre Rolle in der entstehenden Zukunft wahrzunehmen.
All diese Ideen sind wichtige Elemente der Theorie U, aber genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, ist, dass die Theorie U nicht nur eine Theorie ist. Theorie U ist aus der Praxis des U-Prozesses entstanden. In den folgenden Kapiteln finden Sie Erfahrungen, Beispiele, Berichte und Reflexionen betreffend Veränderungsinitiativen in den Bereichen Wirtschaft, Gesundheitswesen und Bildung. So arbeitet beispielsweise das Sustainable Food Laboratory, das auf dem U-Prozess basiert, mit mehr als 50 Unternehmen und Regierungsvertretern an der Frage, wie das globale System der Lebensmittelproduktion von seinem Weg auf den Abgrund zu umgelenkt werden kann. Diese Initiative erstellt Prototypen für ein alternatives Versorgungssystem. Sie finden auch Beispiele aus dem Gesundheitssystem, aus Unternehmen und vielfältigen organisatorischen Innovationsprozessen. Unser praktisches Wissen bezüglich der Umsetzung der Theorie U steckt sicherlich noch in den Anfängen, trotzdem demonstrieren vielerlei Projekte, dass und wie die Prinzipien des U-Prozesses in die Praxis übersetzt werden, und weisen nachdrücklich darauf hin, welche enormen Kapazitäten die Methodologie hat, soziale Systeme, die für viele unveränderbar erscheinen, nachhaltig zu verändern.
Es gibt heute viele systemische Veränderungsinitiativen, die Mut machen. Aber was fehlt, ist ein Weg, die Kapazität dahin gehend zu nutzen, das kollektive Wissen aus diesen diversen Situationen und Organisationen weiterzuentwickeln, insbesondere in einem Kontext, in dem verschiedene Interessengruppen im Konflikt miteinander stehen. Welche Antworten lassen sich in dieser Situation finden? Die Theorie U basiert auf der Annahme, dass der Kernprozess für einen Umbruch, für einen Zustandswechsel des sozialen Feldes auf allen Systemebenen – vom Team über die Organisation hin zu globalen Systemen – der gleiche ist. Die 24 Prinzipien und Praktiken in Kapitel 21 beschreiben diesen Prozess. Ich sehe diese Prinzipien und Praktiken nicht so sehr als »das letzte Wort«, sondern als ein außerordentlich innovatives Protokoll, das vielen von uns, die mit sozialen Führungs- und Veränderungsmethoden arbeiten, hilft und helfen wird.
Abschließend ein Wort an die Leserin und den Leser. Dieses Buch ist ungewöhnlich – es beschreibt gleichermaßen Theorie und Praxis. Viele akademische Bücher stellen Theorien vor, die das Denken des Autors reflektieren, aber nicht seine Erfahrung. Umgekehrt bieten die meisten Managementbücher Unmengen an praktischen Ideen, aber sie haben nur einen sehr dünnen theoretischen Unterbau, oft in der Annahme, dass die Leser aus der Praxis zu beschäftigt