Der mittelalterliche Augustinismus, so die Annahme, hat die Statik des antiken Seinsdenkens erschüttert. Die Unterstellung einer im Grunde harmonischen Synthese von antiker und christlicher Ontologie unter dem Paradigma des Hergestelltseins ist eine verharmlosende Täuschung. Die Frage nach dem Seinsgrund, die Frage, warum überhaupt etwas ist, hat mit Augustinus eine ungekannte Zuspitzung erfahren. Daher ist es nur folgerichtig, dass der erstarkende Aristotelismus im 13. Jahrhundert die augustinische Ursprünglichkeit eines neuen Selbst- und Weltverständnisses zurückzudrängen unternahm. Blumenbergs Kronzeuge für diese Tendenz ist Thomas von Aquin. Gerade dasjenige, was die Neuscholastik an Thomas rühmen sollte – seine unternommene Synthese von antik-aristotelischem und christlich-theologischem Denken – weist für Blumenberg auf das »Problem des Seinsgrundes in seiner eigentlichen Krise«75 hin. Dabei sollte sich gerade zeigen, »wie sperrig sich die ursprüngliche Konzeption der Schöpfung gegen die aristotelische Systematisierung erwiesen hat und welchen Widerstand sie einer kosmologischen Nivellierung zu bieten vermochte«.76 Hier kam nicht zusammen, was zusammengehört, vielmehr sollte zur Einheit werden, was doch zu unterschiedlich war: Der unbewegte Beweger auf der einen, der personale Schöpfergott auf der anderen Seite, hier die Ewigkeit der Welt, dort die Schöpfung aus dem Nichts. Auf die Darstellung dieses Scheiterns der Hochscholastik, einer Vermittlung zwischen der antiken Metaphysik und der – bei aller terminologischen Kontinuität – ursprünglichen Schöpfungstheologie, wird Blumenberg in seinen späteren Studien größten Wert legen. Über Thomas heißt es aber schon in der Doktorarbeit, sein Versuch einer Vermittlung habe ihn »um die legitime Möglichkeit« gebracht, »den christlichen Schöpfungsgedanken im Gesamt seines Wirklichkeitsverständnisses wirklich ursprünglich zu verwurzeln«.77 Als Zeichen für dieses Zurückfallen hinter die bei Augustinus bereits erreichte Ursprünglichkeit des christlichen Denkens erweist es sich, dass Thomas die Verschiedenheit von Personen nur numerisch zu fassen vermag, also als Exempel einer Wesensform, ohne aber die radikale Singularität einer »qualitativen Individualität«78 angemessen erfassen zu können.
Dennoch ist das Gewonnene für Blumenberg nicht wieder verspielbar. Trotz des starken Einflusses des Aristotelismus ab dem 13. Jahrhundert ist die »Entfestigung der selbstverständlichen Hinnahme des Seins in der Grund-Frage … bleibend gewonnenes Fundament der Ontologie; es ist die endgültige … Transzendierung des kosmologischen Horizontes«.79 Bei Duns Scotus, »dem kritischen Geist der Hochscholastik«,80 könne nachvollzogen werden, »daß auch hier ein Bewußtsein dafür hervortritt, daß Seiendes und Seinsgrund nicht als einem Bewegungsganzen als kosmischer Einheit angehörend verstanden werden können«.81
Anstatt sich durch eine Herleitung von Seiendem aus Seiendem zu beruhigen, stehe das christliche Denken für eine »neue Unruhe«82 der Radikalisierung der Frage nach dem Grund des Seins. Das zeigt sich für Blumenberg an dem Denken Bonaventuras, einem Zeitgenossen des Thomas von Aquin. Der in der augustinischen Linie stehende Franziskanermönch habe eine von Aristotelismen »unbelastetere Vertiefung« der ontologischen Grundfrage geleistet, da bei ihm »das ganze Gewicht der Personalität des christlichen Gottes«83 zur Geltung komme. Der Seinsgrund ist für Bonaventura nicht eine selbstständig ablaufende kosmische Weltbewegung, sondern Folge »personaler Vorsehung«: »Die Weltbewegung ist die geschichtliche, nicht allein aus kosmologischen Kategorien verstehbare Entfaltung dieses entwerfend vorsehenden Willens.«84 Wenn der Entwurf der Welt der Personalität Gottes entstammt, steht der um Orientierung ringende Christ vor einem Gegenüber, »bei dem alles darum geht, mit wem es der Fragende ›zu tun hat‹«.85 Bei Blumenberg nimmt diese Frage einen bedrohlichen Unterton an, scheint doch die Antwort nicht durch einen offenbaren Heilsplan vorversichert. Bereits hier diagnostiziert Blumenberg jene Spannung in der mittelalterlichen Theologie, an der sie wenige Jahrzehnte nach Bonaventura mit der Lehre vom verborgenen Gott zerbrechen wird – dem Leitmotiv der Legitimität der Neuzeit. Die »extreme existenzielle Situation« des Christen, sein göttliches Gegenüber einschätzen können zu müssen, gipfelt in dem von Blumenberg verwendeten Begriff des »eigenen Heilsschicksals«86 als zentraler christlicher Erfahrung. Gott ist »echte Spontaneität«87 und sein »Wille entscheidet zwischen Daß und Daß-nicht; darin erst wird Existenz vom unbefragbar Selbstverständlichen zum Faktischen, Gegründeten und deshalb Fragwürdigen. Von dieser gläubigen Erfahrung des absoluten Willens und von der inneren Erfahrung des in seinem Heil aufgegebenen ›Sum‹ her wird das philosophische Fragen nach der Existenz in Atem gehalten.«88
Unterhalb der Oberfläche der nüchternen Diktion mittelalterlicher Texte macht Blumenberg also eine Dramatik aus, deren Hervorhebung schon in seiner Doktorarbeit zu einem Kennzeichen seiner Hermeneutik geschichtlicher Problemgeschichten wird. Es sei durchaus nicht leicht, gesteht er, »in der Starrheit der mittelalterlichen Schulformen und Denkschemen einer ursprünglichen Problembenommenheit wirklich gewahr zu werden«.89 Blumenberg steigert somit zu einer Prägnanz, was so in den Texten oftmals nicht steht. Die Intensität des erfahrenen Dramas um das eigene Schicksal, die Aufwertung der geschichtlichen Situation, die Unhintergehbarkeit personeller Einzigartigkeit – all das sind Motive, die Blumenberg am mittelalterlichen Denken durchbuchstabiert, um sich einen Reim auf die eigenen Gegenwartserfahrungen machen zu können. In der Zuspitzung der scholastischen Ontologie auf die Frage von gnadenabhängigem Sein oder Nicht-Sein spiegelt sich ein modernes Bewusstsein der unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeit des je »auf sich geworfenen Selbst«.90 Blumenbergs Doktorarbeit ist daher zumindest auch ein zeitgeschichtliches Dokument der existenziellen Erschütterung in unmittelbarer Nähe zur erlebten Katastrophe. In ihr spiegelt sich die Willkür der biographischen Erfahrung in der Uneinschätzbarkeit eines absoluten Gottes, der sich nicht in die Karten blicken lässt, aber unser Heilsschicksal ist.
Damit kommen die Grenzen von Blumenbergs Doktorarbeit in den Blick. Die Interpretationen sind zuspitzend, ausblendend, fokussierend. Der theologische Voluntarismus, wie ihn Augustinus vertreten haben soll, erfährt eine äußerst starke Betonung, etwa bei dem geradezu isoliert herausgestellten Schöpfungsakt aus dem Nichts aufgrund des freien Willen Gottes. Die Verlagerung der platonischen Ideen in den Intellekt Gottes durch den Kirchenvater – und somit die von ihm gestiftete metaphysische Erkenntnisbrücke von Gott zu Mensch – bleibt dagegen ausgeblendet. Mit einem Wort: Das Bild, das Blumenberg vom vielschichtigen und biographisch sich wandelnden Augustinus zeichnet, ist »monumental einseitig«,91 wie der Augustinus-Kenner Kurt Flasch anmerkt. Überhaupt mutet die Auswahl der vier Kronzeugen – Augustinus, Thomas, Bonaventura, Duns Scotus – etwas eklektizistisch an. Vor allem der für die späteren Studien so wichtige Wilhelm von Ockham, ohne den der Umbruch des späten Mittelalters blass bleiben muss, fehlt noch ganz.
Doch die philosophische Leistung einer Selbstbehauptung überwiegt. Die von Blumenberg vorgelegte Studie setzt sich souverän wie kritisch von Heidegger ab, einem Denker, der trotz seiner politischen Verfehlungen die philosophische Szene noch beherrschte. Blumenberg leistet nicht allein eine diskrete Gegenwartsverständigung, er unternimmt es vielmehr, das Philosophieren als ein notwendigerweise ursprüngliches auf die jeweilige geschichtliche Situation zu verpflichten. Er übernimmt dazu von Heidegger die Emphase der Ursprünglichkeit, um sie doch alternativ zu bestimmen. Ist aber die Ontologie die rechte Leitdisziplin, um die Geschichtlichkeit der Geschichte des Menschen angemessen zu erschließen?
Bereits in der Dissertation deutet sich eine Wende an, die Blumenberg vollziehen wird und die eine Voraussetzung für sein späteres Werk darstellt. Schon im mittelalterlichen Umbruch des Seinsdenkens erkennt er den Ansatz einer anthropologischen Wende, die sich in der Aufwertung des Individuums andeutet: Wenn der Grund des Seins in der personellen Freiheit des göttlichen Willens ruht, dieser Wille aber rational uneinsehbar ist, bedeutet das zum einen eine Aufwertung des von Gott gewollten Individuums, das daher mehr ist als ein Exemplum, und zum anderen eine Abkopplung des menschlichen Selbstverständnisses vom Äußeren eines von Gott geordneten Kosmos. Der Umbruch in der Ontologie und der mittelalterlichen