Nun, im folgenden Februar, hatte Wellington jenseits der Pyrenäen Fuß gefaßt, und die Menschen in Spanien waren seine Freunde geworden.
Als Odella so in ihren Gedanken versunken war, rief Emily: »Oh, Miss, schauen Sie nur!«
Die Musik wurde lauter, und es waren nicht die Pfeifen und Trommeln, die Odella in letzter Zeit so oft gehört hatte.
Sie beugte sich aus der Kutsche und blickte die Straße hinauf.
Jetzt kam eine bunte Zirkusparade direkt die Straße herab und auf sie zu.
Sie wurde von einem Mann angeführt, der einen roten Rock und einen schwarzen Zylinder trug. Diesen lüftete er immer wieder vor den Frauen, die ihm zuwinkten.
Er ritt auf einem stattlichen schwarzen Pferd.
Dahinter kamen vier weitere Pferde, auf denen hübsche junge Mädchen saßen. Sie trugen Ballettröckchen, die ihre wohlgeformten Beine zur Geltung brachten, und waren mit glitzernden Kronen, wippenden Federn und funkelnden, wenn auch falschen Juwelen geschmückt.
Emily war so aufgeregt, daß sie von ihrem Platz neben Odella aufsprang.
Sie kniete sich jetzt auf den gegenüberliegenden Sitz.
Von dort aus konnte sie die Straße besser überblicken, ohne ihrer Herrin die Sicht zu versperren.
Die Zirkusleute kamen näher.
Nun sah Odella, daß die Musikkapelle auf einem Wagen saß, der von zwei Schimmeln gezogen wurde.
Der Mann auf dem Kutschbock trug das Fell und den Kopf eines Tigers.
Musikinstrumente wie Becken wurden geschlagen, und sie machten den größtmöglichen Lärm, und zum Entzücken der Menge dröhnte die große Pauke.
Die Musiker trugen Fantasiekostüme.
Diesem Wagen folgten Clowns, die mit den Zuschauern Possen rissen und vor den Kindern mit Luftballons an langen Stöcken wedelten.
Sie zogen die Ballons jedoch rasch weg, wenn die Jungen nach ihnen griffen.
Es war unmöglich, nicht über die Clowns mit ihren weißen Gesichtern, den übertrieben roten Lippen und den komischen weiten Hosen zu lachen.
Mit jeder Bewegung, die sie machten und mit jedem Wort, das sie sagten, lösten sie bei den Zuschauern schallendes Gelächter aus.
Auf einem weiteren Wagen saß eine spektakuläre Gestalt, die nicht wie die anderen scharlachrot, sondern in glitzerndes Silber gekleidet war.
Sie saß auf einer Art Thron, und ihr schimmerndes Gewand fing die Sonnenstrahlen ein. Es bedeckte ihren ganzen Körper und auch ihren Kopf.
Vor dem Gesicht trug sie einen orientalischen Schleier.
Man konnte nur ihre Augen sehen.
In der einen Hand hielt sie eine große Kristallkugel und in der anderen ein Kartenspiel.
»Das wird die Wahrsagerin sein, Miss Odella«, rief Emily aufgeregt. »Ich habe schon viel von ihr gehört!«
Odella fand, daß die Person tatsächlich danach aussah.
In diesem Augenblick gebot der Mann mit dem schwarzen Zylinder und dem roten Rock der Gruppe Halt.
Er brachte sein Pferd zum Stehen, und die beiden Wagen hinter ihm hielten an.
»Meine Damen und Herren!« rief er mit einer Stimme, die zwischen den Häusern widerhallte und die Menschenmenge zum Schweigen brachte. »Freunde von Portsmouth! Heute nachmittag um drei Uhr findet im Zirkus auf dem Lincoln Field die erste Vorstellung statt und die zweite um sechs Uhr! Kommt und besucht uns! Kommt und seht euch unsere reizenden Ballerinas zu Pferd an, erlebt, wie unsere Clowns euch zum Lachen bringen, und befragt Madame Zosina, die wahrsagen wird, welche großartigen Überraschungen euch in der Zukunft erwarten.«.
Er legte eine Pause ein und rief dann mit enthusiastischer Stimme: »Da wir allen tapferen Männern, die gegen Napoleon kämpfen werden, Glück wünschen, wird Madame Zosina jedem Soldaten für die Hälfte des Preises, den alle anderen bezahlen müssen, die Zukunft vorhersagen!«
Dafür erntete er lauten Beifall.
Madame Zosina neigte huldvoll den Kopf, zuerst nach der einen und dann nach der anderen Straßenseite.
»Um drei Uhr!« rief der Mann. »Und verspätet euch nicht!«
Die Musikkapelle begann wieder zu spielen, und im Nu waren die Zirkusleute weitergezogen. Die Leute auf den Gehwegen und an den Fenstern winkten ihnen nach.
Eine Schar kleiner Jungen rannte neben den Pferden und Wagen her.
Als die Zirkusleute aus dem Blickfeld verschwunden waren, sagte Emily sehnsüchtig: »Das war wirklich großartig, Miss Odella. Ich würde mir so gern die Zukunft vorhersagen lassen!«
Sie sah Odella flehentlich an.
Odella mochte das Mädchen. Emily war erst siebzehn Jahre alt, nur ein Jahr jünger als sie selbst.
»Wenn wir unsere Einkäufe rasch erledigen, können wir vielleicht danach den Zirkus besuchen«, sagte sie.
Emily faltete die Hände.
»Oh, Miss Odella, meinen Sie wirklich? Ich würde mich mein ganzes Leben lang daran erinnern!«
»Ich hoffe für dich, du wirst noch sehr viel Schöneres erleben, woran du dich erinnern möchtest«, erwiderte Odella. »Aber wir haben es heute nicht eilig, nach Hause zu kommen, da mein Vater verreist ist. Wir gehen in den Zirkus. Aber zuerst müssen wir unsere Besorgungen erledigen.«
Die Kutsche war weitergefahren und Thompson bog bereits in die Einkaufsstraße ein.
Odella hatte eine Liste zusammengestellt, auf der alles stand, was Betsy, die Köchin, und Mrs. Barnet im Haushalt brauchten.
Betsy war seit vielen Jahren im Pfarrhaus tätig, und sie beschwerte sich ständig darüber, daß es in den Dorfläden nicht die Waren gab, die sie dringend in der Küche benötigte.
Es war eine alte Klage, und Odella hatte sie schon hundertmal gehört.
Deshalb hatte sie alles aufgeschrieben, was Betsy haben wollte.
Obwohl die Besorgungen einige Zeit in Anspruch nahmen, hatten sie alles Notwendige eingekauft, ehe es Viertel vor drei war.
Odella war beim Einkaufen aufgefallen, daß Emily immer wieder verstohlen auf die Uhr sah, während sie nach diesem oder jenem fragte.
Emily hatte die Befürchtung, sie würden im Zirkus keine Plätze mehr bekommen, wenn sie sich zu sehr verspäteten.
Odella aber war der Meinung, daß die Nachmittagsvorstellung kaum ausverkauft sein würde.
Am Abend dagegen, wenn die Geschäfte geschlossen waren und die Menschen ihre Arbeit verrichtet hatten, würden sie gewiß zum Lincoln Field strömen, wo das Zirkuszelt aufgebaut worden war.
Dann wäre jeder Platz besetzt.
Als Odella schließlich Thompson sagte, wohin er sie fahren sollte, sprang Emily vor Freude in die Luft.
»Nun, was möchtest du am liebsten tun, Emily?« fragte Odella. »Sollen wir zuerst in das große Zelt gehen und die Clowns, die Pferde und vermutlich auch Affen sehen, oder willst du lieber Madame Zosina besuchen?«
Emily dachte darüber nach, und da ihr die Wahl schwerfiel, dauerte dies einige Zeit.
»Ich würde gern zuerst zu Madame Zosina gehen, Miss Odella«, erwiderte sie schließlich. »So früh am Nachmittag warten dort bestimmt nicht viele Leute, und später ist sie vielleicht nicht mehr da, wenn wir zu ihr kommen.«
Odella lachte und dachte, daß dieser Gedanke Emilys ganz vernünftig war.
»Also gut, gehen wir zuerst