Die Fieberkurve. Friedrich Glauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich Glauser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969694558
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« – nannte Studers Namen: dies also sei der Inspektor der Schweizerischen Sicherheitspolizei.

      Weißer Vater? Père blanc? – Dem Wachtmeister war es, als träume er einen jener merkwürdigen Träume, die uns nach einer schweren Krankheit besuchen kommen. Luftig und lustig zugleich sind sie und führen uns in die Kinderzeit zurück, da man Märchen erlebt…

      Denn Pater Matthias sah genau so aus wie das Schneiderlein, das »Sieben auf einen Streich« erlegt hat. Ein spärliches graues Bärtchen wuchs ihm am Kinn und am Schnurrbart konnte man alle Haare zählen. Mager war das Gesicht! Nur die Farbe der Augen, der großen, grauen Augen erinnerte an das Meer, über das Wolken hinziehen – und manchmal blitzt kurz ein Sonnenstrahl über die Wasserfläche, die so harmlos den großen Abgrund verbirgt…

      Wieder drei Flaschen…

      Der Pater war hungrig. Schweigsam verzehrte er einen Teller voll Kutteln, dann noch einen… Er trank ausgiebig, stieß mit den anderen an. Er sprach das Französische mit einem leichten Akzent, der Studer an die Heimat erinnerte. Und richtig, kaum hatte sich der Weißbekuttete am Essen erlabt, sagte er und klopfte dem Berner Wachtmeister auf den Unterarm:

      »Ich bin ein Landsmann von Ihnen, ein Berner… «

      »A bah!« meinte Studer, dem der Wein ein wenig in den Kopf gestiegen war.

      »Aber ich bin schon lange im Ausland«, fuhr der Schneider fort – eh, was Schneider! das war ja ein Mönch! Nein, kein Mönch… Ein… ein Pater! Ganz richtig! Ein weißer Vater! Ein Vater, der keine Kinder hatte – oder besser, alle Menschen waren seine Kinder. Aber man selbst war Großvater… Sollte man dies dem Landsmann, dem Auslandschweizer erzählen? Unnötig! Kommissär Madelin tat es:

      »Wir feiern unseren Inspektor. Er hat von seiner Frau ein Telegramm erhalten, daß er Großvater geworden ist.«

      Der Mönch schien sich zu freuen. Er hob sein Glas, trank dem Wachtmeister zu, Studer stieß an… Kam nicht bald der Kaffee? Doch, er kam, und mit ihm eine Flasche Rum. Und Studer, dem es merkwürdig zumute war – dieser Vouvray! ein hinterlistiger Wein! – hörte den Kommissär Madelin zum Beizer sagen, er solle die Flasche nur auf dem Tisch stehen lassen…

      Neben dem Wachtmeister saß Godofrey, der, wie viele kleine Menschen, übertrieben elegant gekleidet war. Aber das störte Studer nicht weiter. Im Gegenteil, die Nähe des Zwergleins, das eine wandelnde Enzyklopädie der kriminalistischen Wissenschaft war, wirkte tröstend und beruhigend. Der weiße Vater hatte seinen Platz an der anderen Seite des Tisches, neben Madelin…

      Und dann war Pater Matthias mit Essen fertig. Er faltete die Hände vor seinem Teller, bewegte lautlos die Lippen – seine Augen waren geschlossen; er öffnete sie wieder, schob seinen Stuhl ein wenig vom Tisch ab, schlug das linke Bein über das rechte – zwei sehnige, behaarte Waden kamen unter der Kutte zum Vorschein. Er sagte: »Ich muß notwendig in die Schweiz, Herr Inspektor. Ich habe zwei Schwägerinnen dort, die eine in Basel, die andere in Bern. Und es ist gut möglich, daß ich in Schwierigkeiten gerate und die Hilfe der Polizei brauche. Würden Sie dann so freundlich sein und mir beistehen?«

      Studer schlürfte seinen Kaffee und fluchte innerlich über Madelin, der das heiße Getränk allzu ausgiebig mit Rum gewürzt hatte; dann blickte er auf und erwiderte (auch er bediente sich der französischen Sprache):

      »Die Schweizer Polizei beschäftigt sich sonst nicht mit Familienangelegenheiten. Um Ihnen helfen zu können, müßte ich wissen, worum es sich handelt.«

      »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Pater Matthias, »und ich wage kaum, sie zu erzählen, denn Sie alle«, seine Hand machte eine kreisförmige Bewegung, »werden mich auslachen.«

      Godofrey protestierte höflich mit seiner Papageienstimme. Er nannte den Mönch »Mein Vater« – »mon père«, was Studer aus unerfindlichen Gründen äußerst komisch fand. Er lachte in seinen Schnurrbart hinein, prustete weiter, während er die wieder gefüllte Tasse zum Munde führte, und ließ das Prusten, um nicht Anstoß zu erregen, in ein Blasen übergehen – so als ob er den heißen Kaffee abkühlen wollte…

      »Haben Sie sich je«, fragte Pater Matthias, »mit Hellsehen beschäftigt?«

      »Kartenlegen? Kristallsehen? Telepathie? Kryptomnesie?« Godofrey leierte die Fragen ab wie eine Litanei.

      »Ich sehe, Sie sind auf dem laufenden. Haben Sie sich viel mit diesen Dingen beschäftigt?«

      Godofrey nickte. Madelin schüttelte sein Haupt und Studer sagte kurz: »Schwindel.«

      Pater Matthias überhörte das Wort. Seine Augen waren in die Ferne gerichtet – aber die Ferne, hier in der kleinen Beize, war der Schanktisch mit seinem glänzenden Perkolator. Der Patron saß dahinter, die Hände über dem Bauch gefaltet und schnarchte. Die vier am Tisch waren seine einzigen Gäste. Das Leben in seiner Beize begann erst gegen zwei Uhr, wenn die ersten Karren mit Treibgemüse eintrafen…

      »Ich möchte«, sagte der Weiße Vater, »Ihnen die Geschichte eines kleinen Propheten erzählen, eines Hellsehers, wenn Sie ihn so nennen wollen, denn dieser Hellseher ist daran schuld, daß ich mich hier befinde, anstatt die kleinen Posten im Süden von Marokko abzuklopfen, um dort für die verlorenen Schäflein der Fremdenlegion Messen zu lesen…

      Wissen Sie, wo Géryville liegt? Vier Stunden hinterm Mond, genauer gesagt in Algerien, auf einem Hochplateau, siebzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel, wie es die Inschrift auf einem Stein verkündet, der inmitten des Kasernenhofes steht. Hundertvierzig Kilometer von der nächsten Bahnstation entfernt. Die Luft ist gesund, darum hat mich der Prior dort hinauf geschickt im September vorigen Jahres, denn ich habe schwache Lungen. Es ist eine kleine Stadt, dieses Géryville, wenig Franzosen bewohnen sie, die Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Arabern und Spaniolen. Mit den Arabern ist nicht viel anzufangen, sie lassen sich nicht gerne bekehren. Sie schicken ihre Kinder zu mir – das heißt, sie erlauben, daß die Kleinen zu mir kommen… Auch ein Bataillon der Fremdenlegion lag dort oben. Die Legionäre besuchten mich manchmal; mein Vorgänger hatte eine Bibliothek angelegt – und da kamen sie denn: Korporäle, Sergeanten, hin und wieder auch ein Gemeiner, schleppten Bücher fort oder rauchten meinen Tabak. Manchmal empfand einer meiner Besucher das Bedürfnis zu beichten… Es gehen seltsame Dinge vor in den Seelen dieser Menschen, ergreifende Bekehrungen, von denen jene keine Ahnung haben, welche die Legion für den Abschaum der Menschheit halten.

      Gut… Kommt da eines Abends ein Korporal zu mir, der kleiner ist als ich; sein Gesicht gleicht dem eines verkrüppelten Kindes, traurig und alt ist es… Er heiße Collani, stockt und beginnt dann fieberhaft zu sprechen. Es ist keine regelrechte kirchliche Beichte, die der Mann ablegt. Einen Monolog hält er eher, ein Selbstgespräch. Allerlei muß er sich von der Seele reden, was nicht zu meiner Geschichte gehört. Er spricht ziemlich lang, eine halbe Stunde etwa. Es ist Abend und eine grünliche Dämmerung füllt das Zimmer; sie kommt vom dortigen Herbsthimmel, der hat manchmal so merkwürdige Farben… «

      Studer hatte die Wange auf die Hand gestützt und so gespannt lauschte er der Erzählung, daß er gar nicht merkte, wie er sein linkes Auge arg verzog: schief sah es aus und geschlitzt, wie das eines Chinesen…

      Das Hochplateau!… Die weiten Ebenen!… Das grüne Abendlicht!… Der Soldat, der beichtet!…

      Es war doch etwas ganz anderes als das, was man tagtäglich sah! Fremdenlegion! Der Wachtmeister erinnerte sich, daß auch er einmal hatte engagieren wollen, zwanzig Jahre war er damals alt gewesen, wegen eines Streites mit seinem Vater… Aber dann war er – um die Mutter nicht zu betrüben – in der Schweiz geblieben, hatte Karriere gemacht und es bis zum Kommissär an der Berner Stadtpolizei gebracht. Später war jene Bankgeschichte passiert, die ihm das Genick gebrochen hatte. Und auch damals war wieder der Wunsch in ihm aufgestiegen, alles stehen und liegen zu lassen… Doch da war seine Frau, seine Tochter – und so gab er den Plan auf, fing wieder von vorne an, geduldig und bescheiden… Nur die Sehnsucht schlummerte weiter in ihm: nach den Ebenen, nach der Wüste, nach den Kämpfen. Da kam ein Pater und weckte alles wieder.

      »Er spricht also ziemlich lange, der Korporal Collani. In seiner resedagrünen Capotte