»Zünden Sie sie wieder an!« sagte Mr. Meagles.
»Ach! das ist leicht gesagt. Ich bin der Sohn eines harten Vaters und einer harten Mutter, Mr. Meagles. Ich bin das einzige Kind von Eltern, die alles wogen, maßen und abschätzten, für die, was nicht gewogen, gemessen und abgeschätzt werden konnte, keinen Wert hatte. Strenggläubige Leute, wie man es nennt. Bekenner einer finstern Religion, so daß selbst ihre Religion ein düstres Opfer von Neigungen und Sympathien war, die ihnen nicht eigen und die sie als Kaufsumme für die Sicherheit ihrer Besitztümer darbrachten. Strenge Gesichter, unerbittlich strenge Zucht, Buße in dieser Welt und Schrecken in der nächsten – nirgends ein Schimmer von sanfter Milde und Barmherzigkeit, und in meinem gebeugten Herzen öde Leere überall –, das war meine Kindheit, wenn es nicht ein Mißbrauch ist, dieses Wort auf einen solchen Lebensanfang anzuwenden.«
»Wirklich?« fragte Mr. Meagles, den das Bild, das vor seine Phantasie geführt wurde, in eine sehr unbehagliche Stimmung versetzte. »Das war ja ein schrecklicher Lebensanfang. Aber raffen Sie sich auf. Sie müssen nun auf jede Weise suchen, alles, was darüber hinausliegt, als praktischer Mann zu nützen.«
»Wenn die Leute, die man gewöhnlich praktisch nennt, in Ihrer Weise praktisch wären –«
»Nun, das sind sie auch!« sagte Mr. Meagles.
»Wirklich?«
»Ich denke wohl«, entgegnete Mr. Meagles, darüber nachsinnend. »Hm! Man muß praktisch sein, und Mrs. Meagles und ich sind wirklich praktisch.«
»Mein ungekannter Weg ist vielleicht angenehmer und hoffnungsreicher, als ich erwartet hatte«, sagte Clennam, mit ernstem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Genug von mir. Hier ist das Boot!«
Das Boot war mit aufgestülpten Hüten angefüllt, gegen die Mr. Meagles eine nationale Antipathie hatte. Die Träger dieser aufgestülpten Hüte landeten und kamen die Treppe herauf, und die eingesperrten Reisenden drängten sich auf einen Haufen zusammen. Dann brachten die aufgestülpten Hüte eine Menge Papiere hervor und verlasen die Namen, worauf unterschrieben, gesiegelt, gestempelt, überschrieben und gesandelt wurde, was alles sehr verwischte, sandige und unentzifferbare Resultate hatte. Endlich war das Ganze nach der Ordnung geschehen, und die Reisenden konnten gehen, wohin sie wollten.
In der neuen Freude der wiedergewonnenen Freiheit kümmerten sie sich wenig um das starre, grelle Licht und den Glanz, der das Auge blendete, sondern fuhren in bunten Booten über den Hafen und fanden sich wieder in einem Hotel zusammen, von dem die Sonne durch geschlossene Läden abgehalten wurde, und wo nackte steinerne Böden, hohe Decken und hallende Korridore die glühende Hitze mäßigten. Bald war eine lange Tafel in einem großen Saale mit einem köstlichen Mahle reich besetzt, und die Quarantäneherberge erschien inmitten dieser üppigen Gerichte, dieser südlichen Früchte, dieser gekühlten Weine, dieser Rivierablumen, des Gletscherschnees und der Spiegel, die alle Farben des Regenbogens widerstrahlten, in höchst dürftigem Lichte.
»Aber ich trage jetzt keinen Haß mehr gegen jene eintönigen Mauern im Herzen«, sagte Mr. Meagles. »Man beginnt sich immer mit einem Orte zu versöhnen, sobald man ihn im Rücken hat; ich möchte behaupten, ein Gefangener beginnt mild von seinem Gefängnis zu denken, wenn er freigelassen ist.«
Es waren ungefähr dreißig Personen bei Tisch und alle miteinander im Gespräch, natürlich in Gruppen. Vater und Mutter Meagles saßen, mit ihrer Tochter zwischen sich, am einen Ende des Tisches; gegenüber Mr. Clennam; ein großer französischer Herr mit rabenschwarzem Haar und Bart, gebräunt und von unheimlichem, ich will nicht sagen diabolischem Aussehen, der sich aber als der sanfteste Mensch von der Welt erwiesen; und eine junge hübsche Engländerin, die ganz allein reiste, mit einem stolzen beobachtenden Gesicht: sie hatte sich entweder selbst von den übrigen zurückgezogen oder wurde von ihnen gemieden –, niemand, außer vielleicht sie selbst, konnte darüber entscheiden. Die übrige Gesellschaft bestand aus den gewöhnlichen Elementen. Geschäfts- und Vergnügungsreisende; beurlaubte Offiziere aus Indien; Kaufleute, die nach Griechenland und der Türkei Handel trieben; ein jung verheirateter englischer Geistlicher in einer eng anliegenden Zwangsjoppe, auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau; ein majestätisches englisches Ehepaar von Patriziergeschlecht, mit einer Familie von drei heranwachsenden Töchtern, die zum Unheil ihrer Mitmenschen ein Tagebuch führten; und eine taube alte Engländerin, die mit ihrer entschieden erwachsenen Tochter auf Reisen steif geworden. Diese Tochter zog skizzierend durch die Welt, in der Hoffnung, sich zuletzt selbst in den Ehestand hineinzuschattieren.
Die zurückhaltende Engländerin nahm Mr. Meagles' letzte Bemerkung auf und sagte langsam und mit einer gewissen Betonung:
»Glauben Sie, daß ein Gefangener je seinem Gefängnis verzeihen würde?«
»Das war so meine Ansicht, Miß Wade. Ich behaupte nicht, bestimmt zu wissen, wie ein Gefangener fühlt. Denn ich war noch nie in solcher Lage.«
»Mademoiselle zweifeln«, sagte der Franzose in seiner Muttersprache, »daß es so leicht sei zu vergeben?«
»Allerdings.«
Pet mußte diese Worte für Mr. Meagles übersetzen, da er niemals sich Kenntnis von der Sprache der Länder, die er durchreiste, zu erwerben gesucht. »Oh!« sagte er. »Mein Gott! Das ist schlimm, sehr schlimm!«
»Daß ich nicht so leichtgläubig bin?»sagte Miß Wade.
»Nein, nicht so! Setzen Sie das Wort anders. Daß Sie nicht glauben wollen, es sei leicht zu vergeben.»
»Meine Erfahrung», entgegnete sie ruhig, »hat seit Jahren meinen Glauben in mancher Beziehung geändert. Das ist der natürliche Fortschritt, den wir machen, hat man mir versichert.»
»Wohl, wohl! Aber es ist nicht natürlich, Groll zu hegen, hoffe ich?»sagte Mr. Meagles freundlich.
»Wenn ich irgendwo zu Pein und Qual eingeschlossen gewesen, würde ich den Ort ewig hassen und ihn niederbrennen oder dem Boden gleichmachen zu können wünschen. Das ist meine Ansicht.«
»Etwas stark, Sir!« sagte Mr. Meagles zu dem Franzosen; denn es war gleichfalls eine seiner Gewohnheiten, Individuen aller Nationen in echtem Englisch anzureden, fest überzeugt, daß sie verpflichtet seien, es zu verstehen. »Etwas stark von unsrer schönen Freundin, das werden Sie mir hoffentlich zugestehen?«
Der Franzose erwiderte höflich: »Plait-il?»worauf Mr. Meagels mit großer Befriedigung antwortete: »Sie haben recht. Ganz meine Meinung.»
Als das Diner nach und nach ins Stocken geriet, hielt Mr. Meagles der Gesellschaft eine Rede. Sie war kurz und vernünftig genug, wenn man bedenkt, daß es eine Rede war, ja sogar herzlich. Sie ging darauf aus, daß der Zufall sie alle zusammengeführt und sie gutes Einverständnis untereinander erhalten. Nun aber sei die Scheidestunde herangerückt und es sei nicht wahrscheinlich, daß sie sich je wieder alle zusammenfinden würden. So könnten sie nichts Besseres tun, als einander mit einem gemeinschaftlichen Glas kühlen Champagners rings um die Tafel Lebewohl zu sagen und glückliche Reise zu wünschen. Dies geschah denn auch; mit allgemeinem Händeschütteln brach die Gesellschaft auf und schied für immer.
Die alleinstehende junge Dame hatte die ganze Zeit nichts gesprochen. Sie stand mit den übrigen auf und ging schweigend nach einem entfernten Winkel des großen Saals, wo sie sich auf dem Sofa in einer Fensternische niederließ und die Reflexe des Wassers zu beobachten schien, die mit silbernem Glanze auf den Stäben der Jalousien zitterten. Sie saß von der ganzen Länge des Zimmers abgekehrt da, als wäre sie aus eigner stolzer Wahl allein. Und doch war es so schwer wie je, positiv zu unterscheiden, ob sie die übrigen mied oder ob diese sie mieden.
Der Schatten, in dem sie saß, fiel wie ein düstrer Schleier über ihre Stirn und harmonierte sehr gut mit dem Charakter ihrer Schönheit. Man konnte das ruhige und übermütige Gesicht