Erleichtert teils durch die Heftigkeit dieses Fluches, teils (so seltsam dies auch scheinen mag) durch den allgemeinen Eindruck, daß es eine Art religiösen Aktes war, gab sie dem alten Manne das Buch zurück und schwieg.
»Jetzt«, sagte Jeremiah, »vorausgeschickt, daß ich nicht die Absicht habe, mich zwischen Sie zu stellen, erlauben Sie mir zu fragen (da ich einmal hereingerufen und zum Dritten gemacht worden bin), was soll dies alles bedeuten?«
»Lassen Sie sich's von meiner Mutter erklären«, erwiderte Arthur, da er sah, daß das Sprechen ihm überlassen blieb. »Oder lassen Sie die Sache lieber ruhen. Was ich gesagt, war nur zu meiner Mutter gesagt.«
»Oh!« versetzte der alte Mann, »von Ihrer Mutter? Von Ihrer Mutter erklären lassen? Schon gut! Aber Ihre Mutter sagte, daß Sie Ihren Vater verdächtigt haben. Das ist nicht recht, Mr. Arthur. Wer wird nun bei den Verdächtigungen an die Reihe kommen?«
»Genug«, sagte Mrs. Clennam, ihr Gesicht so wendend, daß es für den Augenblick nur dem alten Manne zugekehrt war. »Wir wollen nicht weiter davon sprechen.«
»Ja, aber nur noch etwas, nur noch etwas«, drängte der alte Mann. »Lassen Sie uns sehen, wie wir stehen. Haben Sie Mr. Arthur gesagt, daß er keine Beleidigungen auf seinen Vater häufen darf? Daß er kein Recht dazu, – daß er keinen Grund zu solchem Betragen hat?«
»Ich werde es ihm jetzt sagen.«
»Ha! Wirklich«, sagte der alte Mann. »Sie werden es ihm jetzt sagen. Sie hatten es ihm bisher noch nicht gesagt und wollen es ihm jetzt sagen. Ah, ah, das ist recht! Sie wissen, ich stand so lange zwischen Ihnen und seinem Vater, daß es scheint, als hätte der Tod keinen Unterschied gemacht, und ich stehe noch zwischen Ihnen. So soll es denn auch sein, und in aller Güte fordre ich, daß der Sache ein Ende gemacht werde. Arthur, ich muß Sie bitten, sich wohl zu merken, daß Sie kein Recht haben, Ihren Vater zu verdächtigen, und keinen Grund, so zu verfahren.«
Er legte seine Hände auf die Lehne des Rollstuhls, und etwas in sich hineinmurmelnd, rollte er seine Herrin wieder an den Schreibtisch zurück. »Aber«, fuhr er hinter ihr stehend fort, »für den Fall, daß ich bei meinem Weggang die Sache auf halbem Wege lasse und man meiner wieder bedürfte, wenn Sie zur Beratung der andern Hälfte kommen, möchte ich doch wissen, ob Arthur Ihnen gesagt, was er in bezug auf das Geschäft beabsichtigt?«
»Er hat es aufgegeben.«
»Vermutlich doch zu keines andern Gunsten?« Mrs. Clennam sah ihren Sohn an, der an einem der Fenster lehnte. Er bemerkte den Blick und sagte: »Natürlich zugunsten meiner Mutter. Sie kann tun, was ihr beliebt.«
»Und wenn irgendeine Freude«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »mir aus der Täuschung meiner Erwartung, daß mein Sohn in der besten Jugendfrische seines Lebens ihm neue Kraft und neuen Schwung verleihen und es nutzbringend und ergiebig machen würde, – wenn irgendeine Freude mir aus dieser Enttäuschung erwächst, so ist es die, daß sie einen alten und treuen Diener im Wert steigen ließ. Jeremiah, der Kapitän verläßt das Schiff, aber du und ich werden untergehen oder auf ihm fortschwimmen.«
Jeremiah, dessen Augen blitzten, als ob sie Geld sähen, warf einen raschen Blick auf den Sohn, der zu sagen schien: »Ich bin Ihnen keinen Dank dafür schuldig; Sie haben nichts dafür getan!« und dann der Mutter bedeutete, daß er ihr danke und daß Affery ihr danke und daß er sie nimmer verlassen werde und daß Affery sie nimmer verlassen werde. Endlich zog er seine Uhr aus ihren Tiefen empor und sagte: »Elf! Die Zeit für Ihre Austern!« und mit dieser Änderung des Themas, die jedoch nicht auch eine Änderung des Ausdrucks oder der Haltung in sich schloß, zog er die Glocke.
Aber Mrs. Clennam beschloß, mit noch größerer Strenge gegen sich zu verfahren, da man sie im Verdacht einer Ersatzverweigerung gehabt, und wies die Austern zurück, als man sie ihr brachte. Sie sahen verführerisch aus: acht an der Zahl, im Kreise auf einem weißen Teller, der auf einer mit weißer Serviette bedeckten Präsentierplatte stand, und daneben eine Schnitte mit Butter bestrichenen Weißbrots und ein kleines volles Glas kühlen Weins mit Wasser; aber sie widerstand aller Überredungskunst und schickte sie wieder hinunter –, indem sie ohne Zweifel diesen Akt zu ihrem »Haben« im Buch der Ewigkeit schrieb.
Bei diesem Austernfrühstück war Affery nicht zugegen, wohl aber das Mädchen, das auf das Läuten erschienen war; dasselbe, das in dem düster beleuchteten Zimmer am vorhergehenden Abend anwesend gewesen. Jetzt, da er Gelegenheit hatte, sie zu beobachten, fand Arthur, daß ihre winzig kleine Figur, ihre kleinen Gesichtszüge und ihr leichter, dürftiger Anzug ihr ein weit jüngeres Aussehen gaben, als es in Wirklichkeit der Fall war. Obgleich ein Mädchen von nicht weniger als zweiundzwanzig Jahren, mochte die Kleine bei einer Begegnung auf der Straße für wenig mehr als halb so alt gegolten haben. Nicht gerade, daß ihr Gesicht so jugendlich ausgesehen; denn die Züge hatten etwas Reiferes und durch Kummer Ausgeprägteres, als dies sonst in solchem Alter der Fall zu sein pflegt. Aber sie war so klein und zart, so still und menschenscheu, und schien so deutlich zu fühlen, sie sei zwischen den drei weit Älteren nicht am Platze, daß sie ganz das Benehmen und viel von dem Wesen eines unterdrückten Kindes hatte.
Die Art und Weise, wie Mrs. Clennam ihr Interesse für dieses abhängige Wesen an den Tag legte, hielt die unbestimmte schwankende Mitte zwischen Gönnerhaftigkeit und Unterdrückung, zwischen dem Strom eine Gießkanne und einer hydraulischen Presse.
Selbst in dem Augenblick, als sie auf das heftige Klingeln eintrat und die Mutter sich mit der eigentümlichen Aktion gegen den Sohn schützte, hatten die Augen von Mrs. Clennam noch etwas besonders Forschendes, das sie für sie aufgespart. Wie es selbst bei dem härtesten Metall Grade von Härte und Schattierungen selbst im Schwarz gibt, so war auch in dem rauhen Wesen von Mrs. Clennams Verhalten zur ganzen übrigen Menschheit und zu Klein-Dorrit eine feine Steigerung vorhanden.
Klein-Dorrit arbeitete als Hausnäherin. So lange der Tag dauerte, oder so kurz er dauerte – von acht zu acht Uhr –, konnte man Klein-Dorrit haben. Pünktlich mit dem Glockenschlag erschien Klein-Dorrit; pünktlich mit dem Glockenschlag verschwand Klein-Dorrit. Was zwischen den beiden Acht aus Klein-Dorrit wurde, wußte man nicht.
Eine weitere Seite im Wesen Klein-Dorrits war dies. Neben der Geldvergütung schloß ihr täglicher Kontrakt auch das Essen ein. Sie hatte einen außerordentlichen Widerwillen gegen das Essen in Gesellschaft und tat es auch nie, wenn sie solchem dann irgendwie ausweichen konnte. Sie schützte, wo es anging, vor, daß sie diese Kleinigkeit schon anzufangen oder jene Kleinigkeit noch fertigzumachen habe; immer dachte, immer überlegte sie, wie sie es einrichten könne, um allein zu essen. Ihr Verfahren war freilich nicht sehr geschickt. Denn sie täuschte niemanden. Aber es gelang ihr doch: und sie war glücklich, wenn sie ihre Platte irgendwohin tragen und ihren Schoß, oder eine Schachtel, oder den Boden, oder sonst einen Fleck zu ihrem Tische machen, oder gar auf den Zehenspitzen stehen und ihr bescheidenes Mal auf dem Kaminsims verzehren konnte; die größte Angst von Klein-Dorrits Tag war dann überwunden.
Es war nicht leicht, Klein-Dorrits Antlitz zu Gesicht zu bekommen. Sie hielt sich ungemein zurückgezogen, nähte in den verstecktesten Winkeln und blickte scheu zur Seite, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnete. Aber es schien ein blasses, durchsichtiges Gesicht von lebhaftem Ausdruck, wenn auch nicht schönen Zügen zu sein: nur ihre nußbraunen Augen machten eine Ausnahme. Ein zart gebeugter Kopf, eine kleine Gestalt, ein Paar kleine, geschäftige Hände und ein abgeschabtes Kleid – es mußte wirklich überaus abgeschabt gewesen sein, obgleich es ganz nett aussah –, das war Klein-Dorrits Erscheinung, wenn sie bei der Arbeit saß.
Diese besonderen und allgemeinen Züge Klein-Dorrits verdankte Mr. Arthur im Laufe des Tages seinen eigenen Augen und Mrs. Afferys Zunge. Wenn Mrs. Affery irgendeinen Willen für sich gehabt, so wäre dieser sicher