Wiener Blut brachte auch den anderen Beteiligten kein Glück: Die zur Zeit des Wiener Kongresses spielende Operette hätte am Theater an der Wien uraufgeführt werden sollen, doch da sich Müller und die Librettisten Victor Léon und Leo Stein mit der Direktorin übers Honorar stritten, boten sie die Operette dem Carltheater auf der Praterstraße an.
Direktor Franz von Jauner griff begeistert zu, weil er annahm, mit der Musik des »Walzerkönigs« seine Bühne vor dem drohenden Konkurs retten zu können. Freilich wurde die Uraufführung am 26. Oktober 1899 trotz der zündenden Strauss-Melodien zum Fiasko. Als am Vormittag des 23. Februar 1900 der Buchhalter dem Direktor mitteilte, dass für die Auszahlung der Wochenlöhne kein Geld mehr verfügbar sei, griff Jauner zu jenem Revolver, mit dem sich sechzehn Jahre zuvor sein Bruder Lukas erschossen hatte, und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Franz Jauners Nichte, die Schauspielerin Emilie Krall, schied wenig später ebenfalls durch Selbstmord aus dem Leben.
Mit dieser Katastrophenserie war die Ära der Goldenen Operette zu Ende gegangen, und doch sollte Wiener Blut nach dem blutigen Start noch seinen Siegeszug feiern: Seit ihrer Neubearbeitung im Jahr 1905 am Theater an der Wien zählt die Operette zu den beliebtesten Werken der leichten Muse.
Ein Bühnenunfall, der Geschichte schrieb
Maria Jeritza an der Hofoper
Maria Jeritza kam 1887 in Brünn zur Welt und begann im Chor des dortigen Stadttheaters, ehe sie Solorollen bekam. Es war kein Geringerer als Kaiser Franz Joseph, der sie im Jahr 1912 veranlasste, an die Wiener Hofoper zu kommen, nachdem er sie in Bad Ischl als Rosalinde in der Fledermaus erlebt hatte.
Nunmehr Mitglied des Wiener Opernhauses, kam es hier nach einem Jahr zu einem »Bühnenunfall«, der Operngeschichte schreiben sollte: Giacomo Puccini war in Wien, um persönlich die Proben seiner Oper Tosca zu überwachen. Unmittelbar vor dem Gebet der Tosca fiel die Jeritza durch eine ungeschickte Bewegung vom Sofa und blieb auf dem Boden liegen. Peinlich berührt, rief sie dem im Zuschauerraum sitzenden Komponisten von der Bühne her »Scusi, Maestro!« zu. Puccini, sichtlich angetan von der Situation, schrie zurück: »No, via, va bene così!« (»Nein, weiter, gut so!«) Also blieb die Jeritza während des Gebets auf dem Boden liegen – und so wird die Szene von vielen ihrer Nachfolgerinnen heute noch gesungen.
Bald gab die gefeierte Sopranistin Gastspiele an Europas großen Opernhäusern, und ab 1921 gehörte sie dem Ensemble der Metropolitan Opera in New York an. 1932 kehrte sie an die Wiener Oper zurück. Nach der Scheidung ihrer ersten kurzen Ehe hatte sie den Wiener Industriellen Leopold Popper von Podhragy geheiratet, mit dem sie jetzt Ecke Stallburggasse–Bräunerstraße in einer herrschaftlichen Wohnung residierte. Im selben Haus wohnten auch Hugo von Hofmannsthal, Max Mell, Alfred Polgar und Bundeskanzler Dollfuß.
Hier noch auf dem Sofa: Maria Jeritza als Tosca
In diesem Zusammenhang sei eine kleine Geschichte erzählt, die Marcel Prawy verraten hat: »Oft zog die riesige Gemeinde der Jeritza-Fans nach einer Vorstellung an der nahen Staatsoper in die Stallburggasse und wartete, um der Gefeierten zujubeln zu können. Es kam vor, dass sich irrtümlicherweise Bundeskanzler Dollfuß an seinem Fenster zeigte, wobei es den Wartenden »peinlich war, ihm zu bedeuten, dass sie eigentlich nicht ihn gemeint hatten«.
Nach der zweiten Scheidung heiratete die Jeritza 1935 einen reichen amerikanischen Regenschirmfabrikanten, mit dem sie in den USA lebte. Sie starb dort am 10. Juli 1982 im Alter von 94 Jahren.
Wie die Gräfin Mariza entstand
Operettenerfolg beim dritten Anlauf
Herr Kálmán, wir hätten eine großartige Idee für Sie, einen Stoff für eine Operette, der ein garantierter Erfolg wird.« Die beiden Herren, die im Jahr 1918 bei dem berühmten Komponisten vorsprachen, waren die Textdichter Alfred Grünwald und Julius Brammer.
»Also, schießen Sie los«, sagte Emmerich Kálmán.
»Ein verarmter Graf«, so Grünwald, »sitzt als Gutsverwalter in einem ungarischen Schloss und hat Sehnsucht nach Wien. Da kommt …«
»Um Gottäs willen«, unterbrach der Komponist mit seinem ungarischen Akzent, »dos is kein Stoff für Opärette, ist zu traurig, ich will Lustiges.« Und er schickte die Herren fort.
Kálmán ahnte nicht, dass sich damit der größte Erfolg seines Lebens um Jahre verzögern sollte. Doch zwei Jahre später klopften die Librettisten wieder an. »Ein junger Graf«, erklärten sie, »sitzt in einem ungarischen Schloss …«
»Ich hobe Ihnen schon gesogt, dos is kein Libretto. Finden Sie bässeren Stoff.«
Grünwald und Brammer nahmen ihn beim Wort und ließen sich etwas anderes einfallen. Sie schrieben Die Bajadere, zu der Kálmán die Musik schuf. Der Erfolg hielt sich in Grenzen.
Nach der Premiere standen die Herren wieder vor seiner Tür. »Junger Graf hat Sehnsucht nach Wien. Da …«
»Ja, Himmelkruzitürken«, explodierte Kálmán, »wie geht dänn der Unsinn weiter?«
Musste zum größten Erfolg seiner Laufbahn überredet werden: Emmerich Kálmán
»Der Graf arbeitet als Verwalter auf einem Schloss, das einer Gräfin Mariza gehört. Er verliebt sich in sie …«
»Gut«, meinte Kálmán, noch lange nicht überzeugt. Doch als er Grünwald und Brammer Tage später im Kaffeehaus traf, summte er ihnen eine Melodie vor, die ihm eben eingefallen war.
»Das ist ein Schlager«, zeigte sich Grünwald begeistert. Und im selben Moment fiel ihm der dazu passende Refrain ein: »Komm mit nach Varasdin!«
Aufgrund dieser einen Zeile stand fest: Einer der Beteiligten – es war der Buffo – musste in dem kroatisch-slawonischen Städtchen Varaždin zu Hause sein. Mit der Zeile und der zündenden Melodie begann Kálmán endlich, Gefallen an der Idee mit dem verarmten Grafen zu finden. Und er schrieb Schlager wie Komm, Zigan; Wenn es Abend wird; Höre ich Zigeunergeigen …
Die Gräfin Mariza wurde zu einem der größten Erfolge der Operettengeschichte. Die Uraufführung am 28. Februar 1924 im Theater an der Wien dauerte sechseinhalb Stunden, von sieben bis halb zwei Uhr Früh, woran das Publikum »schuld« war, da es nach jedem Lied derart vehement applaudierte, dass es zu ständigen Wiederholungen kam.
Eine weitere Sensation des Abends war die Entdeckung eines neuen Komikers namens Hans Moser in der Rolle des Kammerdieners Penižek.*
* Siehe auch Seiten 268–270
Der letzte Wertgegenstand
Robert Stolz und der Gerichtsvollzieher
Robert Stolz litt, als er in den 1920er-Jahren mit seinem Operettentheater in der Wiener Annagasse pleiteging, unter akuter Geldnot. Das Einzige, das er noch besaß, war eine goldene Taschenuhr, und um wenigstens die zu retten,