Wir sind die Flut. Annette Mierswa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annette Mierswa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783732014705
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Leon, der bloß mit den Schultern zuckte.

      »Tut mir leid«, sagte Frau Liebscher und ließ die Schnalle ihrer Tasche einschnappen. »Es ist auch nur noch ein Termin übrig.« Die Schulglocke läutete. Sie ging zur Tür und drehte sich um. »Montag nächste Woche.«

      »Oh, das tut mir nun aber gar nicht leid.« Ben lief an mir vorbei und wedelte mit seiner Karte vor meiner Nase herum, auf der ein Eisbär auf einer Scholle abgebildet war. Der Arsch. Ich ignorierte ihn und ließ mich neben Leon fallen.

      »O Mann. Ausgerechnet Landwirtschaft. Warum hast du das nicht genommen? Du wohnst doch auf einem Bauernhof.«

      »Weil mich das hier mehr interessiert.« Er zeigte mir seine Karte. Eine Insel im Ozean, auf der die Hütten halb im Wasser standen.

      »Aber das ist doch mein Wunschthema!«

      »Ja, meins auch.« Leon grinste.

      »Das stimmt doch gar nicht.« Ich wollte ihm die Karte aus der Hand nehmen, aber er zog sie schnell weg.

      »Sagen wir mal so: Ich wollte dich schützen, damit du dich nicht noch mehr in die Sache reinsteigerst und gar nichts Spaßiges mehr mit mir machst.« Er zog einen Mundwinkel hoch.

      »LEON! Das ist soo …« Eigentlich wollte ich egoistisch sagen, aber ich brachte das Wort nicht über die Lippen. Er sah mich einfach so verdammt süß an.

      »Vielleicht tauscht Kruso mit dir.« Kruso. Dass er auf einem Hof lebte, war nicht zu übersehen. Kruso sah aus wie ein Klischee-Bauernsohn, hatte zerschlissene Jeans an, schwere Stiefel, an denen Erde klebte, und ein viel zu großes kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Seine Haare waren etwas zu lang und etwas zu zerzaust. Er saß allein an seinem Tisch in der letzten Reihe und soweit ich mich erinnerte, sprach er fast nie mit jemandem. Ich vermutete, er träumte sein Leben eher, als dass er es wirklich lebte. Es dauerte auch immer ein wenig länger als bei anderen, bis er reagierte, wenn ein Lehrer ihn ansprach. Gerade kratzte er sich mit einer Ecke seines Lineals Erde unter den Fingernägeln heraus.

      »Hey.« Kruso zuckte zusammen. »Erde an fernen Planeten.« Ich ließ mein Ackerfoto auf seinem Tisch landen. »Kannst du mir mal deine Karte zeigen?« Kruso blickte so langsam zu mir, als würde seine Welt sich in Zeitlupe drehen. Dann kramte er zwischen den Seiten eines zerfledderten Collegeblocks die Karte hervor. Eine Schale mit Zitrusfrüchten, Mangos und Avocados war darauf zu sehen.

      »Baut ihr das auf eurem Hof an?«

      Er lächelte wie jemand, dem gerade ein Kompliment in einer fremden Sprache gemacht wurde, und wandte sich dann wieder seinen Fingernägeln zu. »Noch nicht«, sagte er nach einer Ewigkeit.

      »Warum hast du nicht Ackerbau genommen? Da kennst du dich doch gut aus.« Er zuckte mit den Schultern. »Tauschst du mit mir?« Er schüttelte den Kopf. »Bitte.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Wieso denn nicht?«

      »Ich bin gespannt, was du dazu zu sagen hast.« Er lächelte und mir fiel auf, dass er einen Button am Hemd trug mit der krakeligen Aufschrift Wir sind die Flut. Darunter eine Insel mit einer Palme. Er bemerkte meinen Blick. »Leon war schneller. Das Thema hätte mich am meisten interessiert.«

      »Mich auch. Hast du den Bericht gestern gesehen über Hamburg …?«

      »Ist nichts Neues.«

      »Nein?«

      »Nein. Ich bau ein Boot. Eine Arche.«

      »Was?« Er hatte einen an der Waffel, ganz eindeutig. »Und dann packst du zwei Heidschnucken, zwei Milchkühe und zwei Säue drauf?«

      »Das wäre Blödsinn. Es müssten schon eine Kuh und ein Bulle sein. Und eine Sau und ein Eber. Sonst macht es keinen Sinn.«

      »Schlaumeier.«

      »Nein, das Boot ist für meine Familie. Damit wir noch ans Festland kommen.«

      »Festland?«

      Er schob sein Heft zur Seite und zeigte mir einen abgerissenen Fetzen aus einem Stadtplan. »Unser Hof liegt auf einem Plateau.« Er flüsterte verschwörerisch, als würde er mir eine Schatzkarte präsentieren, und zeigte auf eine Stelle, die rot eingekreist war. »Das wird mal eine Insel.«

      »Und da baust du jetzt schon ein Boot?«

      »Hm.« Sein Blick suchte wieder die Unschärfe und er versank in einer Düsternis, die ich fühlen konnte. Die ich selbst kannte. Einer Düsternis, die auch mich lähmte und herunterzog. Dieses vertraute Gefühl knüpfte in Windeseile ein tröstendes Band zwischen uns, einen stillen Pakt.

      »… gegen die Angst«, flüsterte ich mehr zu mir. Da blickte Kruso auf und in seinen traurigen grünen Augen flackerten helle Punkte wie Lotusblüten, die sich im Sumpf entfalteten.

      »Ja«, sagte er, »gegen die Angst.«

      6

      Schultage waren Avocadotage. Ich hatte immer eine dabei, natürlich bio. Maya sagte sogar Avacado dazu, weil ich sie so sehr liebte. Seit ich vegan aß, war ich Avocadierin, denn da war vieles drin, was ich an gesunden Fetten und Vitaminen brauchte. Ben, der Depp, nannte mich immer Biotönnchen de luxe, dabei war ich nun wirklich kein Tönnchen. Und das Bio zeigte doch, dass ich etwas bewusster mit der Umwelt und meinem Körper umging als so manch anderer. Ben schob auch immer demonstrativ seine Bifi vor meiner Nase aus der Verpackung und machte dabei Geräusche wie kurz vor einem Orgasmus. Das war echt völlig daneben. Unsere Väter hatten zusammen studiert und waren beide erfolgreiche Anwälte. Aber Bens Vater hatte oft echte Kriminelle als Klienten: Großkonzerne, Autobauer, Steuerbetrüger und Banken. Papa war zwar auch kein Engel, aber VW hätte er niemals vertreten, auch Bayer-Monsanto nicht und diese Cum-Ex-Verbrecher. Auf Instagram hatte ich mal gepostet, dass die Bahn haufenweise Glyphosat auf die Gleise sprüht, um sie von Unkraut frei zu halten. Da kommentierte Ben, sein Vater hätte gerade durchgeboxt, dass das Gift noch länger zulässig bleiben würde und daher zum Glück weiterhin jeder siebte Zug pünktlich ankomme. Mit Zwinkersmiley. Echt ein Riesenarsch. Was mich jetzt auf die Barrikaden brachte, war diese blödsinnige Themenverteilung für die Referate zu unserer Klimawoche, für die ich mich bei Frau Liebscher enorm eingesetzt hatte. Ben und sein Eisbär auf der Scholle. O Mann. So ein wichtiges Thema bei diesem Vollidioten. Dem fiel wahrscheinlich die Titanic dazu ein oder Langnese. Echt verschenkt! Und Leon hatte das Pendant zu Bens Karte: An den Polen wird die Eisfläche kleiner, weil sie schmilzt, während einige Südseeinseln langsam untergehen, weil das Wasser steigt. Dazu hatte ich gleich tausend Ideen, vor allem jetzt, wo sogar meine Heimat betroffen sein würde. Aber zu einem Weizenfeld?

      Die Schulstunden plätscherten so vor sich hin, während ich darüber nachdachte, was man tun könnte, um unseren Untergang aufzuhalten, und dabei immer mehr resignierte. Ein anderer Text auf dem Demoschild? Ein Aufruf über Instagram? Pfff. Ich hatte gerade mal 47 Follower, die meisten waren aus meiner Klasse. Mal sehen, was das Planungstreffen am Nachmittag bringen würde.

      »Nicht vergessen: Morgen ist Demo!«, rief ich in den Raum, als es zur Pause läutete – was mit einem kollektiven Aufstöhnen kommentiert wurde.

      »Das bringt doch eh nix.« Saskia klopfte auf ihre Karte, die auf dem Tisch lag. Die rauchenden Schlote eines Kohlekraftwerks waren darauf abgebildet. »Es ist kaum etwas passiert seit Beginn der Demos.«

      »Genau«, sagte Sally, »hier ein Entschlüsschen, da ein Kompromisschen. Vergiss es! Und wir sind auch nicht Greta. Der hört man immerhin zu.«

      »Dabei hast du so schöne Greta-Zöpfe«, höhnte Ben in Fistelstimme und legte sich imaginäre Zöpfe über die Schultern. Besat lachte und schlug mit ihm ein.

      »Du Lauch.« Sally boxte ihm auf den Rücken.

      »Wir sind doch alle ein bisschen Greta, wenn wir da hingehen«, warf ich ein. »Die hat sich einfach jeden Freitag mit ihrem Schild vors Parlament gesetzt und demonstriert. Fertig. Und irgendwann ging es durch die Medien und es kamen immer mehr von uns dazu. Der Rest ist Geschichte.«

      »Und was hat’s gebracht?« Saskia blickte