Der Reporter. Jacques Berndorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jacques Berndorf
Издательство: Bookwire
Серия: KBV-Krimi
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783954415465
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müsse sie laufen lernen.

      Es waren die kleinen Alouettes, die am Himmel wie Hornissen aussehen. Ich machte eine der Planen locker und hob sie hoch. »Hast du ein Streichholz?« Sie drückte mir eine Schachtel in die Hand, und ich leuchtete mit der kleinen Flamme hinein. Aber das Fiberglas spiegelte zu stark.

      »Gibt es hier ein Krankenhaus?«

      »Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber sicherlich. Schon allein für die Knochen der Skifahrer müsste es eines geben.« Ich machte die Plane wieder fest, und wir gingen über den Parkplatz davon in das Zentrum hinein. An der Kirche stand eine Gruppe junger schwatzender Leute, und wir fragten sie nach dem Krankenhaus. Sie gaben uns sehr höflich Auskunft, wie überhaupt die Leute in Hochsavoyen höflich und herzlich sind.

      Das Krankenhaus war ein alter Bau, über dem sich am Hang des Berges ein Neubau erhob. In die Mauer aus ungefügen Steinen war ein breites, schmiedeeisernes Tor eingesetzt und daneben ein schmales für Fußgänger.

      »Es ist nach zwei Uhr«, sagte das Mädchen. »Sie werden uns nicht hereinlassen.«

      »Wir müssen es versuchen«, sagte ich. Die kleine Pforte war offen, eine schmale Rinne im Schnee führte auf das alte Haus zu, in dessen Eingang mattes Licht war. »Bonsoir!«, sagte ich. In dem Glaskasten saß eine alte Nonne mit rundem, gutmütigem Gesicht und las in einer Zeitung. Sie sah mich an und lächelte. »Mitten in der Nacht, Monsieur?«

      »Ich suche nach einem Opfer«, sagte ich.

      Sie stand auf und sagte hölzern und ohne mich anzusehen: »Aber es ist doch nur eins da. Sind Sie Angehöriger?«

      »Ja«, sagte ich. »Und ich muss …« Ich stockte.

      Die Nonne nahm einen Schlüssel von einem schwarzen Brett und kam aus dem Glaskasten heraus. »Es ist furchtbar«, sagte sie. »Sie werden nichts erkennen.« Dann sah sie das Mädchen. »Nur ein Ring ist da, ein goldener, eine Münze. Sie werden gar nichts erkennen.«

      »Das mit dem Ring könnte sein«, sagte ich. »Keine Papiere?«

      Sie schüttelte den Kopf und ging vor uns her hinaus in den Schnee. »Wissen Sie, Monsieur, wir haben nur eine kleine, alte Kapelle für Sektionen. Auf so ein schreckliches Unglück sind wir hier nicht eingerichtet.« Man merkte, dass sie dankbar war für die Abwechslung. »Natürlich«, sagte ich. Die Rinne im Schnee wand sich wie ein Schlauch um den Altbau herum, führte vor dem Neubau auf einen großen, dunklen Kasten unter einem Baum zu.

      »Vielleicht reicht es, wenn Monsieur …«, sagte die alte Nonne. Sie war jetzt sehr unsicher, und sicherlich wusste sie schon, dass sie einen Fehler machte.

      »Ich will sehen!«, sagte das Mädchen hastig.

      Die Nonne schloss die schmale Tür auf, stieß sie in den Raum hinein und knipste dann einen Schalter an.

      Das Ding war weiß und rot und rosa und gelb, violett und blau, und es schillerte fettig und blutig. Unten war es wie ein großer Klumpen, wie eine überdimensionale Faust, aus der drei wie zersplittert und aufgespleißt aussehende dünne Pfähle herausragten. Von einem dieser Pfähle tropfte stetig und dünn irgendetwas herunter. »Das ist es, Monsieur«, sagte die Nonne. Sie sah nicht dorthin. »Wahrscheinlich ist es eine Frau.«

      Ich drehte mich zurück und sagte: »Ich suche einen Mann.« Dann ging ich hinter Ellen her, die davonlief und unablässig stolperte wie ein sehr geschickter Clown. Die Nonne rief ängstlich: »Monsieur, wer sind Sie?«

      Als ich am Eingang des Altbaus vorbeikam, rief ich: »Ellen!« Aber sie stand schon draußen auf der Straße an der Mauer und erbrach sich. Wir waren erst um drei Uhr wieder in der Pension, und natürlich waren Kohler und Bernhold noch immer nicht da. Aber ich machte mir keine Sorgen, denn Kohler war sehr verlässlich.

      Das Mädchen zitterte immer noch, aber es weinte nicht mehr. »Ich möchte noch etwas von dem Kognak.«

      »Natürlich«, sagte ich. Wir knipsten uns eine Tischlampe im Speisezimmer an und tranken ein wenig Kognak. Wir sprachen nicht miteinander, nur einmal versuchte ich mich zu entschuldigen, dass ich sie zu widerlichen Dingen mitgenommen hatte, aber es blieb ein halber Satz, und es war so sinnlos.

      Ich brachte sie nach zehn Minuten in ihr Zimmer und ging dann in meines hinüber, um einige Notizen zu machen. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie stolz ich war, aufgrund ganz einfacher Überlegungen herauszufinden, dass es irgendetwas Konkretes geben musste, und ich erinnere mich ebenso daran, dass ich dachte: Das wissen nicht einmal die Leute von Paris Match. Heute kann ich das sagen, ohne überheblich zu wirken. Jetzt, wo ich kaputt bin und nur noch ein wenig hoffe.

      Wenn ich sage, dass ich das Mädchen nach zehn Minuten auf sein Zimmer brachte, so ist das nicht wörtlich zu nehmen. Ich meine damit nur, dass wir sehr kurz im Speisezimmer zusammensaßen. Ich erinnere mich daran, dass ich sie unbedingt in ihr Zimmer bringen wollte, um aufschreiben zu können, was ich gesehen hatte. Und also muss es nach kurzer Zeit gewesen sein, denn ich bin ein ungeduldiger Mensch, und meine Neugier nach diesem Mädchen war fort.

       2. Kapitel

      Die milchige 40-Watt-Birne über der Schreibmaschine flackert. Also lässt dieser Bastler im vierten Stock seine Mehrzweckmaschine laufen. Vielleicht baut er eine Puppenwiege für seine fette, verfressene Tochter und pfeift unendlich satt und zufrieden vor sich hin und denkt daran, dass in drei Jahren sein Bausparvertrag fällig wird. Lieber Gott, warum kann ich nicht so sein wie er?

      Habe ich »lieber Gott« gesagt? Es steht hier, aber es ist eine Floskel, glaube ich! Bestimmt ist es kein Gebet. Warum kann ich eigentlich nicht beten? Es gibt Leute, die behaupten, wer beten kann, ist ruhig. Ich habe viele solcher Leute getroffen.

      Hier unten im Keller ist es empfindlich kalt, aber ich muss Angela dankbar sein, dass sie mich hier wohnen lässt und nicht einmal Geld dafür verlangt, obwohl es zuweilen schwer ist, das Mitleid und den Spott der Gruppe zu ertragen.

      Angela hat mir gestern, gerade als ich zu schreiben begann, einen alten Teppich gebracht. Ich habe ihn über das Feldbett an die Wand genagelt und bildete mir sofort ein, der Keller sei nicht mehr ganz so kalt und feucht. Aber das ist natürlich unsinnig. Ich brauche eine ganze Anzahl solcher Teppiche, um den Raum wärmen zu können. Sicherlich mehr als vierzig Quadratmeter. Und ich habe auch schon eine bestimmte Idee, wie ich es machen kann: Wenn in zwei Tagen der Fasching vorüber ist, werde ich auf die Schutthalden gehen. Die Leute werfen nach diesen Tagen immer sehr viel Plunder fort, alte Sachen aus fröhlichen Stunden, in denen schwere und leichte Sünden baumeln. Vielleicht finde ich dann Filzstücke oder alte Hemden oder irgendetwas, mit dem ich die Betonwände verkleiden kann.

      Angela ist die Einzige, die zu begreifen scheint, was ich bin und denke. Für die übrigen bin ich nur ein Penner, der einmal ein Reporter war. Ich nehme es ihnen nicht übel, es ist mir gleichgültig. Manchmal allerdings denke ich rachsüchtig, es müssten selige Sekunden sein, diesen Keller zu verlassen, wieder zu arbeiten, zu etwas zu kommen, um dann eines Tages in irgendeinem auffallenden Sportwagen vorzufahren und sie kühl zu fragen: »Kann jemand von euch einen Tausendmarkschein wechseln?« Aber damit würde ich Angela wehtun, und das wäre nicht recht.

      Sie ist eine merkwürdige Frau, und es ist mir ein Rätsel, wie sie mit den anderen zusammenleben kann, ohne zu zerbrechen, in dieser für mich so peinigenden Gemeinschaft, die sie »Blumenkommune« nennen.

      In diesen sechs Monaten, die ich jetzt hier unten sitze, ist sie vier- oder fünfmal zu mir in den Keller gekommen, hat sich auf mein Feldbett gesetzt und geweint. Gesprochen haben wir kaum miteinander, und sie hat mir auch nie gesagt, warum sie weinte. Aber es war immer nach den Nächten, in denen die Bande Geld genug hatte, sehr viel Wermut und Haschisch zu kaufen. Dann saß sie morgens mit ihren dunklen Augen auf dem Feldbett, biss sich in die Hand und weinte lautlos. Und gewöhnlich hielt sie ein Glas Whisky in der Hand und sagte ganz abrupt: »Entschuldigung«, und ging wieder. Und auf der Treppe begann sie ganz laut zu weinen wie jemand, der etwas nicht begreifen kann.

      Es ist wirklich so: Ich sitze jetzt sechs Monate in diesem Keller,