Gustav Wunschheim und die Dokumentation der Kieferchirurgie: Modell der Verletzung und das Ergebnis der Operation
In einigen Abhandlungen setzt sich Gustav Wunschheim mit Behandlungsmöglichkeiten und -erfolgen auseinander und bezieht in bemerkenswerter Weise die Lebensumstände der Patienten mit ein: Wenn ein Patient keine Möglichkeit hat, an der Front weiche Kost zu erhalten, gilt er als »zu jedem Dienste ungeeignet« – Offiziere jedoch, die »vermöge ihrer sozialen Stellung in der Lage sind, sich die entsprechende weiche Kost zu verschaffen«, können immerhin im Kanzleidienst eingesetzt werden. Und ein weiterer Aspekt beeinflusst Wunschheims Arbeit: die Wohnorte der Patienten. Was nützt einem Bauern die komplizierteste Zahnprothese, wenn er bei Problemen keinerlei Ansprechpartner in der Nähe hat. Daher setzt Wunschheim einfache Prothesen ein, die leicht repariert werden können: »Man muß da eben auch die sozialen Verhältnisse gar sehr in Betracht ziehen, wenn man dem Invaliden nicht mehr schaden als nützen will.«41
»Von der Fechtkonkurrenz der Mittelschüler im Residenz-Fechtclub«: Im Vordergrund fechten Erwin und Hans von Wunschheim. Abbildung in Sport und Salon, 11.5.1907
Auch selbst muss Wunschheim während des Krieges einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen: Am 16. Juni 1918 fällt sein Sohn Hans mit nur 18 Jahren – im Jahr 1907 hatte er noch gemeinsam mit seinem Bruder Erwin Preise bei einem Fechtturnier gewonnen.
1925 feiert Gustav Wunschheim seinen 60. Geburtstag – ein guter Anlass, seine Verdienste zu würdigen und auch seine private Seite ein wenig zu beleuchten. Schüler und Freunde erweisen ihm Reverenz, ihm, »dem ernsten, stillen, äußerlich strengen und doch so wahrfühlenden, herzensguten Menschen«42. Ein gutes Drittel seines Lebens leitet Wunschheim zu diesem Zeitpunkt bereits die zahnärztliche Abteilung der Wiener Poliklinik, die er 1905 nach dem überraschenden Tod seines Lehrers Josef von Metnitz übernommen hat.
Zahnärztliches Ambulatorium an der Poliklinik Wien, Vorstand ist Gustav Wunschheim. Abbildung in der Wiener Illustrierten Zeitung, 19.5.1912
Die Idee der Poliklinik ist völlig neu und fast revolutionär, denn das Konzept dieser – privat geführten – Institutionen besteht ursprünglich darin, Asyl für verarmte Kranke ohne Unterschied ihrer Nationalität und Konfession zu bieten, vorerst nur in einem Ambulanzbetrieb, später auch mit stationärem Aufenthalt. Die Behandlung erfolgt gratis, als Gegenleistung stellen sich die Patienten den behandelnden Dozenten für Unterrichtszwecke zur Verfügung.
Und auch im Kreis der Förderer und Mäzene verwirklichen sich an der Poliklinik neue, moderne Ideen, denn Vertreter des aufstrebenden jüdischen Großbürgertums und der Hocharistokratie arbeiten für diesen guten Zweck eng zusammen. Dies ist vorerst auf die Ebene gemeinsamer humanitärer Ziele beschränkt, doch langsam entwickelt sich auch ein gesellschaftlicher Umgang miteinander.
Um 1900 entspricht die Klinik den modernsten hygienischen, diagnostischen und therapeutischen Ansprüchen und genießt großes internationales Ansehen. Dies zeigt sich auch darin, dass in verschiedenen Städten Europas und Amerikas und sogar in Kairo ähnliche Institute nach Wiener Vorbild errichtet werden. Genau in diesen Jahren des Fortschritts und der Modernisierung kommt Gustav Wunschheim an die Klinik, die er erst 1936 verlässt. Er baut seine Abteilung, die anfangs nur von fünf bis sieben Uhr nachmittags geöffnet ist, fortwährend aus und um. »Seine erfolgreiche organisatorische Begabung setzt es in rastloser, zielbewußter Arbeit durch, daß nun der bedeutend vergrößerte Füllsaal 16 komplett eingerichtete Stühle ausweist«43, heißt es 1925. Und die Abteilung steht ganztägig offen – eine weitere wichtige Verbesserung der Versorgung, in deren Mittelpunkt die Erhaltung der Zähne steht. Ein Punkt, der sich auch in der Weiterentwicklung der Zahn- und plastischen Chirurgie im Zuge des Ersten Weltkrieges als bedeutend erweist. »Die musterhaft geführten Krankengeschichten, die Modellsammlung, das Röntgen- und photographische Archiv der behandelten Fälle bleiben eine wertvolle Fundgrube der Kieferpathologie und -therapie und zeigen von hohem sittlichen Ernst und dem reichen Können Wunschheims.«
Dem Sport ist Gustav Wunschheim in vielfältiger Weise verbunden, gemeinsam mit seiner Frau Melanie ist er Mitglied des Ski-Alpenvereines und engagiert sich Jahr für Jahr im Yacht-Club Attersee. Dieser veranstaltet Regatten, baut immer neue Bootsklassen und richtet auch Motorbootrennen aus, bei denen Gustavs Sohn Erwin im Jahr 1930 mit flotten 50 km/h dabei ist und mit seinem Boot Hornis I »das Publikum entzückt«, nachzulesen in der Linzer Tages-Post am 22. August 1930. Doch Erwin reicht der kleine Attersee nicht, er unternimmt im selben Jahr eine Motorbootfahrt von Wien nach Budapest.44 Sie dauert nur sieben Stunden, sehr rasant im Vergleich zu den damaligen Verkehrsschiffen, die 13 Stunden benötigen. Erwin zeichnet sich auch durch andere sportliche Tätigkeiten aus, besitzt ein Auto und nimmt an Motorradrennen und Ballonverfolgungsfahrten teil – ein »Sportsman« in der typischen Attitüde der 1920er- und 1930er-Jahre. Doch er hat noch ein weiteres Talent und gestaltet ab den 1930er-Jahren Plakate für die Österreich-Werbung.
Die Anfänge des Union-Yacht-Clubs Attersee
Segeln und Skifahren, die Passion der Familie Wunschheim. Werbeplakat von Erwin Wunschheim für die Österreich-Werbung 1937
Erwin Wunschheim als Bühnenbildner. Abbildung im Programmheft zu Die Regimentstochter an der Wiener Volksoper, November 1938
1938 ergibt sich ein weiteres Aufgabengebiet: Für eine Neuinszenierung der Regimentstochter an der Volksoper im November des Jahres – zu dieser Zeit heißt das Haus »Kraft durch Freude-Oper« – entwirft er die Kostüme und gestaltet die Bühne, ebenso wie für Hans Pfitzners Oper Christ-Elflein. Die Rezensenten würdigen die Bühnengestaltung besonders wohlwollend – ein Erfolg, den der Vater nicht mehr miterleben kann: Gustav stirbt am 25. Oktober 1938 in Attersee. Seinen Nachlass hatte er in seinem am 22. November 1929 aufgesetzten Testament geregelt: »Zu Gunsten meiner Gattin Melanie Wunschheim, die so lange Jahre Freud und Leid mit mir geteilt und mir durch ihre Sparsamkeit, bescheidenes Leben und gute Führung des Haushaltes getreulich geholfen hat, errichte ich das Vorausvermächtnis des Hausrates und zwar sowohl des Hausrates unserer Wiener wie auch unserer Atterseer Wohnung. Ich bemerke jedoch hiezu, dass fast sämmtliche Einrichtungsgegenstände unserer Wiener Wohnung von meiner Frau in die Ehe mitgebracht wurden und daher auch noch heute ihr Eigentum sind, sowie dass – ich war ja damals vermögens- und einkommenslos – meine Frau von ihrem Gelde den größten Teil der Einrichtung meines Ordinations- und Wartezimmers angeschafft hat und mir nur leihweise zur Verfügung gestellt hat, sodass diese Einrichtungsgegenstände ihr Eigentum sind. Durch die Folgen des unglücklichen Krieges ist auch mein bescheidenes Vermögen, soweit es in Papieren angelegt ist, auf einen geringen Betrag zusammengeschmolzen