Ich arbeitete zwar lange, harte Stunden, aber das lockere Inselleben und das Meer versüßten mir die Härten. In meiner Freizeit ging ich täglich zum Strand. Meistens rüber zum FKK-Gelände, um mir die nackten Frauen anzusehen.
Leider kam ich nie mit meinem Geld aus. Trotz der Trinkgelder war ich ständig pleite, weil das Leben auf Sylt sehr kostspielig war. Nach Kleidung, Zigaretten, Wäscherei und dem abendlichen Kneipen hier war nicht viel übrig. Mal die große Sause machen und ein Mädchen einladen war selten drin.
Nach Meta war ich ohnehin von den Weibern kuriert. Die faß ich nur noch mit der Feuerzange an, sagte ich mir.
Wenn ich nach Feierabend braungebrannt, mit weißer Hose, gepflegtem Sporthemd und Sonnenbrille und mit einer dekorativen FAZ unterm Arm (fand ich damals geil) auf der Louisenstraße langschlenderte, fühlte ich mich wie der Größte. Es war fast so, als wäre ich einer der reichen Sylt-Urlauber. Mit der Zeit kam mein Selbstbewußtsein zurück, und das Birkumer Drama war fast vergessen. Dann wurde es Spätsommer und die Saison näherte sich ihrem Ende. Ich wußte, meine Tage als Tellerwäscher waren gezählt.
Meiner Mutter schrieb ich beruhigende Briefe. Ich lobte mein neues Leben in höchsten Tönen und teilte ihr mit, daß ich vorhatte, für immer auf Sylt zu bleiben.
Postlagernd antwortete sie mir: «Junge, Du kannst zurückkommen. Die Schulkommission hat entschieden, daß Du wieder aufgenommen wirst, weil es dem Schulverweis an Beweiskraft fehlt. Der Rektor war zu voreilig.»
Aber dafür war ich zu stolz. Für die in Birkum war ich doch für immer als kleiner, mieser Dieb abgestempelt.
Nach langer, reiflicher Überlegung beschloß ich, mich nach Bremerhaven zurückzuziehen, um dort eine kaufmännische Lehre zu absolvieren.
OK, ich hatte das Abi nicht geschafft, aber immerhin die Mittlere Reife. Und so konnte ich noch etwas aus meinem zukünftigen Leben machen.
Nach Saisonschluß fuhr ich direkt nach Hause.
Meine Lehrzeit war eine Katastrophe. Die ganze Firma schien nur aus perversen Folterern zu bestehen, die ein gemeinsames Hobby hatten: Lehrlinge schikanieren!
Mein erster Arbeitstag bescherte mir bereits das erste unangenehme Erlebnis. Mutter kratzte die Wochen davor ihre Spargroschen zusammen und kaufte mir gute Arbeitskleidung. Weiße, bügelfreie Nyltex-Oberhemden, schwarze Hose, ein graues Jackett und schwarze Lederschuhe. Als ich um neun Uhr früh in das Verlagsgebäude kam, klopfte mir das Herz vor Aufregung bis zum Halse. Mutter kam mit mir bis zur Tür.
«Siehst gut aus, mein Junge», sagte sie überzeugt. «Toi, toi, toi!»
Dann ging ich rein, zum Personalbüro. Im Vorzimmer traf ich den anderen neuen kaufmännischen Lehrling, ein hübsches Mädchen, das Anna hieß. Sie war nicht die Spur nervös.
Der Personalchef ging mit uns durch alle Abteilungen: Auftragsannahme, Kasse, Vertrieb, Sekretariat, Werbung und Buchhaltung. In jeder Abteilung wurden wir den Mitarbeitern vorgestellt, und er erklärte uns deren Aufgaben. Als wir nach zwei Stunden durch waren, hatte ich alles wieder vergessen. Da waren einfach zu viele Gesichter, Namen und Fachwörter.
Mich steckten sie in die Buchhaltung … Buchhaltung! Schon der Name klang langweilig.
Ein blasser, gebückter Angestellter gab mir meine Arbeit: Zahlenkolonnen von Rechnungsbeträgen auf Richtigkeit vergleichen. Ein unangenehmer, nie-endender Job. Immer wieder schaute ich auf die Uhr. Die Zeiger waren wie festgeschweißt. Die Zeit ging und ging nicht rum. Dann … endlich! … war es ein Uhr und Mittagspause. Ich rannte hinaus und war erschüttert.
Das kann nicht das Leben sein! Es bis ans Ende meiner Tage in verstaubten Büros verbringen. Was für ein gruseliger Gedanke! dachte ich verzweifelt. Hätte ich bloß mein Abi gemacht und wäre Journalist geworden.
Hinter dem Verlagsgebäude war ein Ententeich. Dort setzte ich mich ins Gras und aß mein Butterbrot. Ich träumte vom Meer …
Auf den schäumenden Wogen tanzte ein Katamaran, in der fernen Südsee. Am Ruder stand ich, mit Prinz-Heinrich-Mütze und blauem Blazer, als Kapitän und Eigner. Die Salontür, die mit geschliffenen Fenstern versehen war, öffnete sich. Heraus kam eine blonde Bikinischönheit, mit blauen, blitzenden Augen: Meta, mein einziger Passagier. Braungebrannt, mit Blumen im Haar, legte sie sich auf die gepolsterte Bank des Ruderdecks. Das Segeltuch an den Masten knatterte. Die deutsche Flagge knallte im böigen Wind. Ein paar Möwen begleiteten das schwankende Schiff. Ein schöner Traum! Ich werde ihn realisieren. Aber Meta? Daraus wird wohl nichts, dachte ich verbittert und verdrängte alle Gedanken an sie. Dann war die Mittagspause vorbei. Das Menschenmaterial kehrt in die Maschinerie zurück, stöhnte ich und ging zurück ins «Grab». Mein Name für die Buchhaltung, die ich so scheußlich fand.
Im Vorraum saßen ein paar ältere Angestellte, aßen ihre Mittagsbrote und versperrten mir den Weg.
«Stift! Wurm! Auf den Boden mit dir», rief der großmäulige Verkaufsleiter.
Alle lachten. Sie hätten einfach ein bißchen zur Seite rücken können. Obwohl ich sie höflich drum bat, machten sie’s aber nicht.
«Kriech schön auf dem Bauch. Hinter den Stühlen durch. Damit trainierst du die Nr.-Eins-Übung beim Tageblatt. Nur so wird man was in diesem Laden. Los, Wurm! Kriech!»
Die anderen hielten sich die Bäuche vor Lachen.
Ich ging zu Boden und kroch in meiner neuen Kleidung auf dem staubigen Fußboden zu meinem Arbeitsplatz. Was blieb mir anderes übrig? Mit meinem bißchen Lebenserfahrung konnte ich nicht lässig kontern. Ich kroch also und ärgerte mich schwarz.
Nur fünfzehn Busminuten von Birkum entfernt mietete Mutter ein Zwei-Zimmer-Apartment. Mit modernem Bad und Küche. Wir waren froh, endlich eine ordentliche, angenehme Wohnung zu haben.
Fünf Monate später bekam ich die Portokasse mit dem verdammten Freistempler zu meinen Aufgaben dazu.
Das war schlimm, weil ich nun den letzten Rest an Freizeit verlor. Wenn die anderen nach Hause gingen, brachten sie mir noch ihre Briefe. Oftmals kamen erst eine ganze Stunde nach Betriebsschluß noch Berge von Post. Die mußte ich dann falten, kuvertieren, frankieren und ins Portobuch eintragen.
Dann holte ich die Schubkarre, füllte sie mit den Postsäcken und schob sie durch die Hintergassen zum Postamt. Ich genierte mich, auf der Hauptstraße, dem direkten Weg, zu gehen. Es hätten mich vielleicht Bekannte sehen können. In meinen Augen sah ich mit der blöden Karre wie ein Hilfsarbeiter aus. Als das einer der Angestellten spitz kriegte, lachte mich die halbe Firma aus. War mir aber egal.
Jeden Morgen mußte ich der eingebildeten Chefsekretärin Freistempler und Portobuch mit Endaddition vorlegen. Für mich die reinste Hölle! Denn die stimmte bei mir nie. Trotzdem arbeitete ich Abend für Abend hochkonzentriert, um keine Fehler zu machen. Immer ging ich mit angekratzten Nerven nach Haus. Ich tat mein Bestes, aber es half nichts. Am nächsten Morgen mußte ich mir erneut das Gekeife von Fräulein Sommer anhören.
«Du bist eine Niete, wie wir sie noch nie hatten!» schimpfte sie. «Fehlbetrag von fünfundsechzig Pfennig», trug sie zum Ausgleich ins Portobuch ein und schüttelte angewidert den Kopf.
Das färbte auf die anderen Angestellten ab. Für die war ich bald eine Pflaume.
In der Berufsschule ging auch alles schief. Mein erstes Zeugnis war schlimm. Der Chef, der es unterschreiben mußte, war verärgert.
«So etwas fällt auf den Lehrherrn zurück. Es wäre besser, du wärst gleich Hilfsarbeiter bei der Schiffswerft geworden!» schrie er zornig.
Ja, meine Lehrzeit stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Ich bekam eine Negativeinstellung zu allem, was mit der Lehre zusammenhing, und haßte allmählich die Arbeit und den Verlag.
Es kam wieder ein Morgen und ein neuer