Jeden Sommer, wenn der Rat der Fünfhundert seine Amtsgeschäfte aufnahm, wurden auch die alten, von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetze und Dekrete einer Prüfung unterzogen. Wer ein neues Gesetz einbringen wollte, richtete seinen Vorschlag an die Volksversammlung; wenn er wollte, dass ein altes Gesetz modifiziert oder abgeschafft werden sollte, musste er ausdrücklich die entsprechenden Punkte erörtern. Nachdem ein Vorschlag den auf der Pnyx versammelten Bürgern vorgelesen worden war, musste er am Sitz des Archon eponymos ausgehängt werden, damit jeder Bürger ihn sich noch einmal durchlesen und sich ein eigenes Urteil bilden konnte. Im Anschluss wurde er dem Rat der Fünfhundert vorgelegt, der ihn begutachtete, den Text in juristische Sprache übertrug und zur Abstimmung an die Volksversammlung zurückreichte, stets mit einer nicht bindenden Empfehlung, die endete mit den Worten: »Was immer das Volk entscheiden möge, wird gut sein.«25 Später (403 v. Chr.) wurde diesem Prozess ein weiterer Schritt hinzugefügt: Eine gut bestückte Kommission von Nomotheten – 501 oder 1001 –, ausgewählt aus den Bürgern, die den Geschworenengerichten angehörten, debattierte ausführlich über jeden Vorschlag, bevor er an den Rat weitergereicht und schließlich in der Volksversammlung offen diskutiert und per Handzeichen gutgeheißen oder abgelehnt wurde. Nur so konnte ein Gesetz wirksam, aber ebenso von jedem Bürger wieder in Frage gestellt werden, sollte es sich als ungerecht oder unpraktikabel erweisen.
Das individuelle Recht, ein Gesetz vorzuschlagen, ging einher mit der Verpflichtung, sich nicht von Partikularinteressen leiten zu lassen oder gegen das Gemeinwohl zu handeln. Um sich in dieser Hinsicht abzusichern und alle abzuschrecken, die solches im Schilde führen könnten, richtete die Stadt zwei kluge Rechtsmittel ein: den »Prozess gegen das Gesetz« und den »Prozess gegen das für die Gemeinschaft nicht förderliche Gesetz«.26 Ersteres befasste sich hauptsächlich mit den Formalien und dem Prozedere und sah Strafen vor, die von einer einfachen Geldbuße in weniger schwerwiegenden Fällen bis hin zum Entzug von politischen Rechten für Wiederholungstäter reichten. Das zweite Rechtsmittel, das nur auf Gesetze, nicht auf Dekrete angewandt wurde, konnte sogar die Todesstrafe nach sich ziehen für diejenigen, die ein Gesetzesvorhaben durchsetzen wollten, das gegen die Interessen der Gemeinschaft verstieß. Beide Prozesse, zu denen es äußerst selten kam, wurden vor einem großen Geschworenengericht verhandelt.
εδοξε τηι βουληι και τωι δημωι (édoxe tê boulê kái tô démō) (»So haben es der Rat und das Volk beschlossen.«). Dieser Satz, der auf vielen aus der Erde geborgenen Stelen überliefert ist, stand über allen Gesetzen und Dekreten, über die in den Zeiten der Athenischen Demokratie abgestimmt wurden. Im Vergleich zu dieser Erklärung ist die Formel »Senatus populusque romanus« geradezu eine hohle rhetorische Figur, ja eine gefährliche Illusion. Seit der griechischen Antike hatte kein Volk mehr wirklich eine direkte Teilhabe – und Urheberschaft – an der Verfassung, Genehmigung, Anwendung und Abschaffung der Gesetze, mit denen es regiert wurde.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.