Theater gespielt hat sie schon in der Bürgerschule. »Wenn wir Schule spielten, ließen mir meine Klassenkameradinnen stets die Aufgabe zukommen, unsere Lehrerin darzustellen«, erinnerte sich Paula Wessely. »Ich nahm diese, meine erste Rolle, sehr ernst, thronte auf einem improvisierten Pult, führte pedantisch genau das ›Klassenbuch‹, in dem ich die Leistungen und das Betragen meiner Mitschüler lobte und tadelte und sie auch sonst recht streng behandelte.« So mancher von Paula Wesselys »Klassenbuchvermerken« ist erhalten geblieben: »Engel Julie, nicht bei der Sache«, steht da in gestochen klarer Schrift, »Gruss Blanka, sehr ausgelassen« an anderer Stelle. Eine Mitschülerin hinterließ, dass Paula einmal, gramvoll über deren fiktives Zeugnis gebeugt, ausrief: »Na, Tochacek, schöne Noten sind das nicht, die du heuer nach Haus bringst!«
Nichts deutete vorerst darauf hin, dass das aufgeweckte Mädchen den Wunsch hegte, zum Theater zu gehen. Es sah seinen Berufsweg vielmehr als Lehrerin. Paula Wessely träumte davon, auch »im wirklichen Leben« zu unterrichten. »Allerdings wurde mir bald klar, dass ich für den Lehrberuf viel zu ungeduldig gewesen wäre. Die Entscheidung fiel durch meine wunderbare Deutsch- und Geschichtelehrerin.« Sie hieß Madeleine Gutwenger und sollte eine ganz entscheidende Rolle im Leben der Wessely spielen.
Wie alle in der Klasse bekam Paula im Literaturunterricht die Aufgabe, ein Gedicht zu rezitieren. Ihr Auftritt war so eindrucksvoll, dass sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler errang, allen war klar, dass hier etwas Einzigartiges passierte. Die kleine Paula hatte sämtliche Zuhörer, Kinder wie Lehrerin, durch den Vortrag einiger harmloser Reime in ihren Bann gezogen.
Als sie damit fertig war, ging sie vom Katheder zurück in ihre Bankreihe. Es entstand eine kleine Pause, die Frau Gutwenger mit den Worten beendete: »Kein Wunder, du hast ja auch eine berühmte Namensschwester.«
Paula protestierte sogleich lautstark: »Nein, bitte sehr, das war meine Tante!«
Madeleine Gutwenger kommt das Verdienst zu, erkannt zu haben, dass diese Schülerin schauspielerisches Talent hatte und jetzt vermutete sie, dass ihr dieses förmlich im Blut lag. »Als im letzten Schuljahr unsere großen Dichter zu Wort kamen, zeigte Paula Wessely ein sicheres Urteil, ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge und sittlichen Ernst, kurz eine überragende Reife«, erinnerte sich die Lehrerin später. »Als es dann an die Berufsberatung ging, legte ich ihrer Mutter meine Gründe vor, die mich veranlassten, in dem jungen Mädchen die Voraussetzung für eine künstlerische Lebensbahn zu finden.«
Die theaterbegeisterten Eltern hatten nichts dagegen einzuwenden, ganz im Gegenteil, die Idee gefiel ihnen, vermuteten sie doch bei ihrer Tochter längst schon eine besondere Beobachtungsgabe: Wann immer die Dreizehn-, Vierzehnjährige im Geschäft aushalf, soll sie die Eintretenden mit anderen Augen angesehen haben, als es das Personal tat. Ganz genau verfolgte sie Gruß, Art der Bestellung und wie sich die Kundschaft sonst noch benahm. Wie eine kleine Schauspielerin eben, die die verschiedenen Typen mit ihren Besonderheiten und sprachlichen Eigenheiten studierte. Und wenn’s nicht klappen sollte mit dem Theater – in der elterlichen Fleischerei würde sie jederzeit Aufnahme finden!
CHRISTIANE HÖRBIGER: »Die Eltern meiner Mutter waren einfache Leute, aber zu Hause wurde Hochdeutsch gesprochen, was für ihre berufliche Entwicklung sicher sehr wichtig war. Den sprachlichen Schliff erhielt sie durch ihre Lehrerin Madeleine Gutwenger, deren Bedeutung für sie gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Später wurde es in gewisser Weise ein Problem für meine Mutter, dass mein Vater aus einem ›besseren Haus‹ stammte als sie. Der Papa hat sie das nie spüren lassen, er war immer besonders nett zu Mamas Eltern und nahm sie selbstverständlich ins Haus auf, als sie nicht mehr allein leben konnten. Meine Mutter hat ihre Eltern geliebt, aber unbewusst war da immer ein verteidigender Ton, wenn sie über sie sprach.«
Am glücklichsten war Paula Wessely, wenn sie mit ihrer Schulklasse Galerien und Museen, vor allem aber die Wiener Bühnen besuchen durfte. Als unvergesslich bezeichnete sie die Vorstellung von Raimunds Der Bauer als Millionär, in der Alexander Girardi kurz vor seinem Tod im April 1918 als Fortunatus Wurzel am Burgtheater brillierte. Und nach einer Minna von Barnhelm-Aufführung am Volkstheater entrang sich ihr der Stoßseufzer: »Es gibt halt doch nichts Schöneres, als ein großer Schauspieler zu sein!« An ihre Lehrerin Madeleine Gutwenger gewandt, bekannte sie noch: »Mit Klitsch und Onno zu spielen, wäre für mich die Erfüllung aller Träume!«*
Paula ging noch zur Bürgerschule, als sie die Gelegenheit zu ihrem ersten öffentlichen Auftritt hatte. Am 18. Mai 1922 gab sie bei einer schulischen Wohltätigkeitsveranstaltung die Agnes in Hermann Sudermanns Einakter Fritzchen, wobei dem Rezensenten der Reichspost »das Frl. Wessely wegen ihres natürlichen Spiels« auffiel.
Jetzt wusste sie schon, wohin sie wollte. »Das Theater ist es, das mein Wirkungskreis in späteren Jahren sein soll«, schrieb Paula Wessely in einer Hausaufgabe, der sie den Titel Rückblick und Ausblick gab. Weiter unten heißt es dann: »Es ist eigentlich nicht meine Art, mir die Zukunft recht schön auszumalen. Denn ich denke dann immer an die fürchterlichen Enttäuschungen, deren gerade mein voraussichtlicher Beruf so reich ist und so erspare ich mir die Luftschlösser. Nur das eine steht fest, dass ich alle Kraft an das Studium setzen werde, um das zu erreichen, was mein Wunsch ist.«
Das 15-jährige Mädchen konnte nicht ahnen, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen und alles übertreffen sollte, wovon es, auch ohne Luftschlösser, geträumt hatte. Paula sprach in der Staatsakademie für Musik und darstellende Kunst vor und zwar in einem Kleid, das von ihrer älteren Schwester Marie eigens für diesen Anlass geschneidert worden war. Sie hatte ein Gedicht von Ferdinand von Saar, eine Szene aus Grillparzers Weh dem, der lügt und einen Monolog aus Goethes Iphigenie vorbereitet. Madeleine Gutwenger, die sie an die Schauspielakademie begleitete, soll angesichts ihres Vortrags und in Anspielung auf die berühmte Tante Josephine ausgerufen haben: »Die wird eine zweite Wessely!«
Paula wurde aufgenommen und erhielt im Wintersemester 1922/23 ihren ersten Unterricht. Einer ihrer Lehrer an der Akademie war Rudolf Beer, der auch ihr erster Theaterdirektor werden sollte. Zwischendurch nahm sie Privatstunden bei der über achtzig Jahre alten Schauspielpädagogin Valerie Gréy, zu deren Schülern Jahrzehnte davor der große Josef Kainz und auch die Tante Josephine gezählt hatten. Die Gréy war berühmt für ihre sonderbaren Unterrichtsmethoden, so setzte sie sich auf ihre Schüler, drückte ihnen ihr Knie ins Zwerchfell und ließ sie dabei Sprechübungen machen, bei denen diese zu ersticken drohten. Paula Wesselys Mitschüler an der Akademie waren Siegfried Breuer, der erwähnte erste Flirt, sowie ihre später ebenfalls berühmt gewordenen Kollegen Käthe Gold und Karl Paryla, für den »das außergewöhnliche Talent der Wessely vom ersten Tag an spürbar gewesen ist«.
Dass da etwas Besonderes heranwuchs, war nicht zu übersehen. Am 20. Oktober 1923 gastierte das »Gréy-Ensemble« mit dem Trauerspiel Uriel Acosta von Karl Gutzkow im Wiener Akademietheater. Neben Paula Wessely, die in einer Hosenrolle auftrat, sah man Siegfried Breuer und den künftighin bedeutenden Regisseur Leopold Lindtberg. Dieser erinnerte sich in einem Brief, den er der Wessely mehr als ein halbes Jahrhundert später schrieb, an die erste gemeinsame Arbeit*: »Wir hörten, Sie seien eine Nichte der berühmten Josephine Wessely, die unter Dingelstedt und Laube am Burgtheater wirkte. Wir stellten uns eine der rauschenden Heroinen vor, wie sie heute noch im Burgtheaterfoyer zu sehen sind … Man hatte schon ein paar Tage geprobt, als Ihre Szene an der Reihe war. Da kam ein ernstes, verschlossenes Mädchen, nicht eben groß gewachsen, aber aufrecht und mit auffallend klarem Blick. Die Sprache war hell und direkt, ein wenig landschaftlich getönt, das Timbre der Stimme überaus gewinnend. Ihren Text wusste die Kleine auf der ersten Probe perfekt auswendig, er kam überzeugend und gescheit über die Rampe, alles geschah konzentriert, doch ohne Anstrengung. Ich habe es damals sicher nicht so formuliert, aber ein Instinkt sagte mir: So soll man Theater spielen.«
Und »so« spielte sie dann auch Theater.
Es